Kickl als ÖVP-Verführer: Welche Taktik der FPÖ-Chef verfolgt
Kaum derbe Namenswitze, kaum Beschimpfungen, wenig Bierzelt-Gebrüll: FPÖ-Chef Herbert Kickl hat bereits im Wahlkampf seine Rhetorik entschärft. Seit dem 29. September geriert sich der Wahlsieger noch sanfter, analytischer – und schlägt gar versöhnliche Töne an. Die neuen Rollen: Kickl als Verführer, die Volkspartei als Umworbene.
Bisher ließ sich ÖVP-Chef Karl Nehammer nicht locken. Bundespräsident Alexander Van der Bellen hatte bekanntlich Klarheit gefordert: Nehammer, Kickl und SPÖ-Chef Andreas Babler sollen diese Woche miteinander sprechen und klären, wer mit wem regieren will. Das vorentscheidende Treffen zwischen Nehammer und Kickl fand am Dienstag statt.
Wenn aus Kameraden Freunde werden
Kurz darauf stellte Nehammer wiederholt klar: Er wolle und werde mit Kickl nicht koalieren. „Es geht nicht um die Frage der Sympathie zwischen uns beiden“, sagte er. Kickl könne einfach mit staatspolitischer Verantwortung nicht umgehen. Das habe er mehrfach bewiesen: als Innenminister mit der Razzia gegen den Verfassungsschutz, als „Angstverstärker“ in der Corona-Krise oder mit Verschwörungstheorien (WHO sei die „nächste Weltregierung“).
Der FPÖ-Chef tritt Mittwochmittag vor die Journalisten, diesmal sind sogar Fragen genehm. Kickls Kernbotschaft: Seine Hand bleibe ausgestreckt, Nehammer müsse sich „entkrampfen“. Er, Kletterer Kickl, habe mit Boxer Nehammer auch über Sport gesprochen. Rivalisierende Bergsteiger würden auch Seilschaften bilden. „Warum soll das bitte in der Politik nicht funktionieren? Gar nicht so selten wird aus so einer Zweckgemeinschaft eine Kameradschaft oder gar Freundschaft“, meint Kickl.
Welche Taktik er damit verfolgt und warum diese nicht schlüssig erscheint – wichtige Fragen und Antworten:
Was sagt Kickl zum gemeinsamen Gespräch und Nehammers Auftritt?
Laut Kickl hat Nehammer eine erste „Chance vertan“. Er sei „ohne Überlegungsphase“, direkt nach dem Gespräch, vor die Presse getreten. Nehammers Statement sei wohl schon vor dem gemeinsamen Treffen verfasst worden. Offenbar wolle er den Sack – die Koalition ÖVP-SPÖ-Neos – direkt zumachen. „Ich habe ihn gestern in gewisser Weise emotional beleidigt erlebt, einen beleidigten und gekränkten Wahlverlierer“, meint Kickl. Er wiederum habe versucht, eine „gemeinsame Ebene“ zwischen FPÖ und ÖVP zu definieren – auf Basis von Inhalten und der Beziehung beider Parteien. Dafür habe er Nehammer eine blaue Mappe überreicht (das Dokument ist auch online auf der FPÖ-Website abrufbar).
Was enthält Kickls blaue Mappe?
Konkrete Termine für Sondierungsgespräche zwischen Blau und Türkis, Vorschläge zur Versöhnung und „Sofortmaßnahmen“. Die FPÖ meint, dass die türkis-blaue Koalition von 2017 bis 2019 „gut für Österreich war“. Die Causa Ibiza könne man für beendet („finita“) erklären. Und: Wie schon in ihrem Wahlprogramm, kommen die Blauen der Volkspartei wirtschaftspolitisch entgegen.
Sie plädieren für einen neuen Prozess bei der Budgeterstellung, bei dem alle Ausgaben überprüft werden sollen – ein „Zero Based Budgeting“. Sie wollen Zuwanderern die Sozialleistungen kürzen, die Grunderwerbssteuer abschaffen, für weniger bürokratische Vorgaben sorgen, Kleinstunternehmen die Körperschaftssteuer von 23 auf 15 Prozent senken und „keine neuen Steuern“ einführen.
All diese und weitere Punkte wie die „Evaluierung der Bildungskarenz“ würde die ÖVP wohl direkt abnicken: Einige davon hat sie selbst in den vergangenen Jahren vorgeschlagen, scheiterte aber jeweils am grünen Regierungspartner.
Bis 14. November: Die FPÖ hat einen Fahrplan für Sondierungsgespräche mit der ÖVP vorgelegt. Ab Dienstag, 22. Oktober, will sie bis 14. November sechs Themen besprechen. Die FPÖ-Vorschläge:
- Wirtschaft: Körperschaftsteuer für mittlere und kleine Betriebe senken, EU-Regulierung stoppen
- Arbeitsmarkt: Lohnnebenkosten senken, Betriebe mit attraktiven Arbeitsplätzen fördern
- Migration/Asyl: Österreichs Grenzschutz ausbauen, Asylberechtigten keine Staatsbürgerschaft mehr verleihen, Familiennachzug beenden
- Gesundheit: „Genügend“ Ärzte ausbilden, nur „Elementarversorgung“ für „Asylanten“
- Sicherheit: Strafmündigkeitsalter senken, Verbotsgesetz gegen politischen Islam – und kein Sky Shield
- Demokratie: Ausbau der direkten Demokratie, Corona-Aufarbeitung
Welche Taktik verfolgt Kickl, indem er der ÖVP so stark entgegenkommt?
Kickl hat sich an die „vernünftigen Kräfte“ in der ÖVP gewandt. Sein offensichtliches Kalkül: mächtige ÖVP-Flügel mit Inhalten davon zu überzeugen, dass Blau-Türkis das geringere Übel als eine Koalition mit SPÖ-Chef Andreas Babler sei. Die „ganze ÖVP“ liefere sich sonst Babler aus, was ein „noch schlimmerer Links-Schwenk“ als die Zusammenarbeit mit den Grünen wäre, argumentiert Kickl. Er weiß: Viele hohe ÖVP-Funktionäre erachten Türkis-Grün im Nachhinein als massiven Fehler. Deshalb appelliert Kickl auch direkt an Industrie, Wirtschaft und den Bauernbund.
Gibt es relevante Kräfte in der ÖVP, die gerne mit der FPÖ koalieren würden?
Vereinzelte Befürworter gibt es wohl in allen ÖVP-Flügeln. Bisher sprechen sich aber nur Teile der Industriellenvereinigung öffentlich pro Blau-Türkis aus. Entscheidend: Die Landeshauptleute stärken Nehammer den Rücken. Und das, obwohl in Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg sowie mutmaßlich bald Vorarlberg die ÖVP weitestgehend harmonisch mit den Blauen regiert.
Der Unterschied: Sie ist jeweils der stärkere Partner. Im Bund wäre das umgekehrt. Kickl glaubt: Sobald die Tür für Koalitionsverhandlungen nur einen Millimeter aufgehe, werde eine Einigung sehr realistisch. Genau davor habe Nehammer Angst, denn dann würde er den Kanzlerposten verlieren.
Könnte Nehammer noch umschwenken und Blau-Türkis zustimmen?
Das gilt als ausgeschlossen. Er müsste eines seiner zentralen Wahlversprechen, nicht mit Kickl zu koalieren, brechen. Sollte sich, abseits von Nehammer, eine starke Mehrheit für Blau-Türkis in der ÖVP finden, müsste Nehammer konsequenterweise als Parteivorsitzender zurücktreten. Anders formuliert: Seine politische Zukunft hängt spätestens seit Dienstag von der SPÖ ab. Außer, es kommt zu Neuwahlen.
Ist Kickls Taktik, die ÖVP zu verführen, tatsächlich schlüssig?
Sie hat seit Mittwochabend einen schweren Logikfehler. FPÖ-Abgeordnete Dagmar Belakowitsch hat einen Antrag in die Sitzung des EU-Hauptausschusses eingebracht. Die Blauen wollen verhindern, dass ÖVP-Finanzminister Magnus Brunner EU-Migrationskommissar wird. „Als Mitglied der schwarz-grünen Bundesregierung hat Brunner die katastrophale Migrationspolitik in den letzten Jahren in Österreich mitzuverantworten“, befindet Belakowitsch. Sie bezieht sich dabei unter anderem auf eine hohe Zahl an Asylanträgen.
Zweitens habe Brunner als Finanzminister „vollkommen versagt“. Der FPÖ-Antrag ist ein offener Affront an genau jenem Tag, an dem Kickl die Volkspartei scheinbar umwirbt. Denn Nehammer hatte sich persönlich dafür eingesetzt, dass Brunner EU-Kommissar wird – und den Grünen im Gegenzug sogar Zugeständnisse gemacht.
Sind die Österreicher für Blau-Türkis?
Derzeit hat die Koalitionsvariante eine Mehrheit. Laut KURIER-OGM-Umfrage von vergangenem Sonntag ist FPÖ-ÖVP mit 40 Prozent Zustimmung die mit großem Abstand beliebteste Variante. ÖVP-SPÖ-Neos folgt mit 28 % und ÖVP-SPÖ-Grüne mit 18 % auf Platz zwei und drei. Insofern ist Blau-Türkis die beliebteste Variante – beide Dreierkoalitionen kommen zusammen aber auf 46 % der Wählerschaft. Und: Bei der Kanzler-Direktwahl liegt Nehammer mit 26 % nach wie vor drei Prozentpunkte vor FPÖ-Chef Herbert Kickl.
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