Als die ÖVP Nehammer zum „Mister 100 Prozent“ machte
Er hatte die Rede noch nicht begonnen, da gab es für den Kanzler den ersten Schreck-Moment, oder genauer: Für die 1.300 Gäste in der Grazer Helmut-List-Halle. Denn Karl Nehammer hob an mit: „Der Sebastian hat mir vorher ein SMS geschrieben.“
Kurzes Nachdenken im Saal. Chats? Nachrichten? War es wirklich eine gute Idee, damit einzusteigen?
Nehammer löste die Spannung flott mit dem Versprechen, die Nachricht im Anschluss zu veröffentlichen.
Kollektives Durchatmen, dann Lachen im Saal. Tatsächlich habe ihm Sebastian Kurz Folgendes geschrieben: „Es wird etwas ganz Besonderes sein, wenn du vor dem Parteitag stehst.“ Und er, Nehammer, solle den „Moment unbedingt in sich aufsaugen“.
Man darf davon ausgehen, dass Karl Nehammer genau das getan hat. Er hat diesen Samstag in sich aufgesogen – und das ist keine große Überraschung.
Denn mit einem Ergebnis von 100 Prozent holte der neue ÖVP-Obmann das Maximum und übertraf damit seine Vorgänger – auch Kurz.
Was war zuvor nicht spekuliert worden, wie der Auftritt des gefallenen ÖVP-Chefs wohl ablaufen werde?
Letztlich war Sebastian Kurz letzter Auftritt vor den Funktionären mäßig spektakulär (siehe unten). Gemeinsam mit Fürsprecher Wolfgang Schüssel erklomm Kurz die Bühne. Er sprach von der „unglaublichen Ehre“, die ihm an der Spitze der Partei zuteilgeworden sei. Nehammer wünschte er, dass er bleibe, wie er sei. Dann Standing Ovations, Musik – und die Ära Kurz war erledigt.
Und Karl Nehammer? Er hatte das Glück, dass Altkanzler Schüssel und insbesondere Klubchef August „Gust“ Wöginger für ihn den Einpeitscher gaben.
Lust an der Politik
Die Erzählung in Wögingers launiger Rede war ebenso offensiv wie klar: Wir lassen uns die Lust an der Politik nicht verderben – auch oder schon gar nicht, wenn uns unsere Gegner besonders untergriffig attackieren.
Damit ist man auch schon wieder beim neu gewählten Parteichef und seiner Rede.
Angelegt auf eine gute halbe Stunde, brach der Regierungschef mit seiner Zeitvorgabe – und das war nicht nur zu seinem Vorteil.
Denn aus den ursprünglich angepeilten 30 Minuten wurde eine gute Stunde. Und dabei hatte der ÖVP-Chef stellenweise Mühe, der Rede die nötige Dramaturgie bzw. einen roten Faden zu geben.
„Es gibt ganz viele Angriffe unter der Gürtellinie. Wisst ihr, warum das so ist? Weil sie es auf Augenhöhe nicht schaffen.“ Da war es wieder, das Opfer-Motiv, das zuvor schon bemüht worden war.
Freiheit in der DNA
Nehammer war es offenkundig ein Anliegen, das „Wertefundament“ – sein Wertefundament – zu beschreiben.
„Freiheit ist unsere DNA.“ Und im Unterschied zu „den Linken“ schreibe man den Menschen nicht vor, wie sie zu leben hätten.
Um wirklich ganz klar zu machen, wie genau er das meint, erwähnte der ÖVP-Chef die Geschichte vom Heiligen Martin. „Er hat seinen eigenen Mantel geteilt – nicht den eines anderen.“ Und genau das sei eben der Unterschied zwischen „christlich-sozial“ und „sozialistisch“: Die einen teilen, was ihnen gehört; die anderen verteilen das Eigentum der Fremden.
Über weite Strecken war Nehammers Rede rückwärtsgewandt – aber das musste sie wohl sein. Immerhin hat man mit dem Koalitionspartner viele große Krisen zu bewältigen: Corona, Krieg und Teuerung.
Apropos Grüne: Sie hat Nehammer demonstrativ aus aller Kritik ausgenommen. Und dass der ÖVP-Chef die Freundschaft zwischen der grünen Klubchefin Sigrid „Sigi“ Maurer und ihrem Pendant „Gust“ Wöginger gleich an zwei Stellen erwähnte, war als Zeichen der Wertschätzung gedacht. Die Botschaft: Mit den Grünen ist es zwar mühsam, aber es klappt.
Die Zustimmung zu ihrem „Mister 100 Prozent“ lässt die ÖVP manche der jüngeren Unwägbarkeiten vergessen lassen. Egal ob die Parteifinanzen-Affären in Vorarlberg, die Affäre um die betrunkenen Cobra-Beamten im Umfeld der Kanzlerfamilie oder die Chats und der Korruptions-U-Ausschuss: All das hatte die Stimmung der türkis-schwarzen Parteifamilie zuletzt eingetrübt. Mit Nehammers 100 Prozent war das vergessen. Zumindest an diesem Wochenende.
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