ABC lernen statt Arabisch sprechen
Manche haben bis ins Teenageralter noch nie eine Schule besucht, noch nie einen Stift in der Hand gehalten. Viele können nur Arabisch. Jetzt müssen sie alle eine fremde Sprache lernen. In Wort und Schrift: Deutsch.
Für alle Kinder, die sich in Österreich aufhalten, gilt vom sechsten Lebensjahr an neun Jahre lang die Schulpflicht. So also auch für jene Kinder und Teenager, die in den vergangenen Monaten hier um Asyl angesucht respektive es bereits erhalten haben. Während die Zahl der Schüler in den allgemeinbildenden Pflichtschulen APS (Volks-, Haupt- und Neue Mittelschule sowie Sonderschulen und Polytechnische Schule) von 2010/’11 verglichen mit dem Schuljahr 2015/’16 von 579.897 auf 563.013 gesunken ist, ist die Zahl der außerordentlichen Schüler gestiegen. Als solche gelten jene, die die Unterrichtssprache Deutsch nicht beherrschen.
17.283 Schulpflichtige erhielten 2010/’11 Sprachförderkurse an heimischen APS. Im Schuljahr 2015/’16, dem "Jahr der Willkommenskultur", gab es 31.118 außerordentliche Schüler. Tendenz heuer: steigend. Um dem Bedarf an Sprachförderunterricht gerecht zu werden, wurde die Zahl des Lehrpersonals laut Bildungsministerium von 442 auf 850 Planstellen nahezu verdoppelt.
Mit welchen Herausforderungen sind Lehrer und Schüler konfrontiert? Wie schwierig ist die Integration der Flüchtlinge unter gleichaltrigen Österreichern? Der KURIER begab sich auf Lokalaugenschein in zwei Schulen.
Expositurklasse
Erste Schritte: Leise sein & aufzeigen
Grüßen, aufzeigen, leise sein: Verhaltensregeln in der Schule, dargestellt von einem Pinguin auf der Tafel. Hier sitzen keine sechsjährigen Tafelklassler, sondern 13- bis 15-Jährige aus Afghanistan, und die Regeln sind ihnen neu. „Viele von ihnen sind noch nie an einem Schreibtisch gesessen, hatten noch nie einen Stift in der Hand“, erzählt Julia Leithner.
Die junge Lehrerin unterrichtet eine von zwei Gruppen – die „weniger Gebildeten“. Ihre Lernziele: Das ABC, lesen, schreiben – und eben auch leise sein und aufzeigen. „Nach ein, zwei Monaten haben wir schon erste Erfolgserlebnisse“, erzählt sie.
Insgesamt 25 unbegleitete minderjährigen Flüchtlinge (UMFs) bilden die so genannte „Expositurklasse“ der Jakob-Thoma-Schule in Mödling, oder „Mudeling“, wie die Flüchtlinge sagen. Umlaute, typisch für die deutsche Sprache, sind ihnen noch fremd. Wenn sie die Grundzüge beherrschen, lernen sie Deutsch auch im Kontext von Fächern wie Geschichte und Geografie.
Ein geregelter Alltag
Der Unterricht findet wenige Kilometer vom eigentlichen Schulhaus entfernt statt, im Heim der Österreichischen Jugendarbeiterbewegung, weil sie dort auch wohnen. „Das ist ein Vorteil, weil sie dadurch zum ersten Mal die Struktur eines Alltags kennenlernen, bevor sie dann in der eigentlichen Schule integriert werden“, erklärt Direktorin Elisabeth Leitner.
Viele kommen aber gar nicht so weit: Als außerordentlicher Schüler darf man die Pflichtschule nur so lange besuchen, bis man im 16. Lebensjahr ist. Da hat man– rein theoretisch – ja schon neun Pflichtschuljahre hinter sich.
Theoretisch. Die Burschen in der Expositurklasse sind von einem Schulabschluss aber noch weit entfernt, wenn sie aus dem System fallen. Direktorin Leitner findet das schade: „Viele haben wir nur ein Jahr da, bringen ihnen in dieser Zeit gerade einmal gut genug Deutsch bei, und dann müssen sie schon eigene Wege gehen. Dabei gibt es keinen besseren Integrationsort als die Schule.“ Ein freiwilliges zehntes Schuljahr hält sie für wünschenswert. Das Bildungsministerium prüft gerade, ob das Sinn macht.
Einige junge Flüchtlinge haben es schon in die „normalen“ Klassen der Neuen Mittelschule geschafft, manche sogar bis zur Matura und in ein Studium. Derlei Absolventen hätten Vorbildfunktion, sagt Schuldirektorin Leitner: „Sie zeigen den anderen: Wenn man etwas schaffen will, dann schafft man es.“
Deutschunterricht
"Ein Nomen, ein Hauptwort, ein Tier"
„HÜ vergleichen. Grammatik. Spiel. Partnerarbeit.“ Das Programm der kommenden drei Stunden steht auf der Tafel geschrieben. Doch die Worte zu lesen fällt den 17 Schülern zwischen zehn und 14 Jahren schwer. Ebenso wie sie zu schreiben oder auszusprechen. Das ist nicht das einzig Ungewöhnliche an der Klasse in der Neuen Mittelschule (NMS) in der Wiener Pfeilgasse. An einer Stuhllehne das Schild „der Sessel“, am Beckenrand der Hinweis „das Waschbecken“.
„Einige sind erst seit eineinhalb Wochen in der Schule, seit wenigen Monaten in Österreich,“ sagt Katja Wöginger, die einem Teil der insgesamt 46 außerordentlichen Schüler der NMS Sprachförderunterricht gibt.
Vier Mal pro Woche beginnt die Schule für Atanas aus Bulgarien, Aso aus Afghanistan oder Hussein aus Syrien mit Extra-Deutschstunden, ehe es in ihre Klassen und um andere Fächer geht. An diesem Vormittag geht es um „Verben und ihre Endungen“. Wenige Hände gehen hoch, nachdem Wöginger nach einem „Verb“ fragt. Nach mehr Hinweisen – „Wer kann mir ein Verb, ein Zeitwort, ein Tunwort sagen?“ – will fast jeder zu Wort kommen.
„Sprechen, laufen, gehen“ wird der Lehrerin angesagt, um es auf die Tafel zu schreiben. „Pferd“, sagt Atanas. „Nein, das ist ein Nomen, ein Hauptwort, ein Tier“, versucht die Lehrerin den Fehler zu erklären – auf die Fährte zu locken. „Was kann man mit einem Pferd tun?“ – „Essen“.
Einige lachen, andere verstehen nicht, was an Pferdefleisch zu essen komisch sein soll. Da das Gros der Klasse – 13 der 17 Schüler kommen aus Syrien – Arabisch spricht, einige Englisch können, wird simultan übersetzt. Funktioniert das nicht, behilft man sich mit Gesten. Oder mit Zeichnungen an der Tafel, wie bei der nächsten Übung.
Lebensgeschichten
Ein Schüler soll vier Dinge zeichnen, von denen eines unwahr ist – die anderen selbiges raten. Aisha zeichnet vier Figuren, ein Haus, eine Katze und einen Vogel mit Herz an die Tafel. Am Ende der Raterunde wissen alle, dass Aisha mit vier Schwestern in einem Flüchtlingsheim lebt, keine Vögel mag und in Syrien eine Katze hat. Auf Nachfrage, wer wie viele Geschwister hat, werden auch die Lebensgeschichten der Schüler offenbar. „Ich habe vier Schwestern, vier Brüder, zwei tot.“
Ehe der Unterricht zu Ende geht, gibt es Hausübungen. Noten gibt es für diese wie für andere Fächer noch keine. Noch sind die 17 außerordentliche Schüler, weil sie die Unterrichtssprache zu wenig beherrschen.
Die Forderung nach einem zehnten Pflichtschuljahr ist an sich nicht neu: Bereits 2012 hatte der ÖGB es angeregt, um zu verhindern, dass Jugendliche zu früh aus dem Bildungssystem fallen und um ihnen den Berufseinstieg zu erleichtern. Einige Experten hielten wenig davon: Die Schule sei zu praxisfremd, hieß es.
Jetzt ist die Debatte angesichts des Flüchtlingsstromes neu aufgeflammt. Das Bildungsministerium überlegt die Einführung eines freiwilligen zehnten Jahres in der Pflichtschule für so genannte „außerordentliche Schüler“. „Juristen prüfen im Gesetz, ob das überhaupt möglich ist. Die Frage ist auch, ob es Sinn macht“, sagt eine Ministeriumssprecherin zum KURIER.
Ordentliche Schüler können schon jetzt ein zehntes Jahr anhängen, wenn ein Abschluss wahrscheinlich ist. Bei Flüchtlingen rechnet man damit offenbar nicht. „More of the same“ mache mit der Wiederholung der vierten Klasse also wenig Sinn. Andererseits leiste der Klassenverband, der Kontakt zu gleichaltrigen Österreichern, einen wertvollen Beitrag zur Integration. Die Überlegungen stünden noch am Anfang, lässt die Sprecherin offen. Der finanzielle Faktor sei dabei nicht relevant.
Matura in AussichtFür Flüchtlinge, die mit dem 15. Lebensjahr derzeit aus der Schulpflicht fallen, gibt es spezielle Angebote. So starten ab November 30 Lehrgänge an Bundesschulen, in denen gezielt auf den Pflichtschulabschluss hingearbeitet wird. Für Basisbildung und Alphabetisierung hat das Ministerium die Plätze heuer auf 2400 verdoppelt.
Jene, die in ihrer Heimat bereits eine grundlegende Bildung genossen haben, bei denen es nur an den Deutschkenntnissen mangelt, werden in eigenen Lehrgängen auf eine weiterführende Schule mit Matura vorbereitet.
Kommentare