„Zu EU-Politikern fällt mir nur ein Wort ein: Heuchler“
Der Stadtchef von Bihać gilt allgemein als besonnener Mann. Šuhret Fazlić wird heuer 61 Jahre alt, hat unter anderem in den USA studiert, hat dann den Krieg in seiner Heimat überlebt und übt sein Amt im Rathaus der bosnischen Grenzstadt schon länger aus.
Im Interview mit dem KURIER pfeift der Politiker jedoch auf Diplomatie. Zu sehr fühlt er sich von Europa im Stich gelassen.
KURIER: Herr Bürgermeister, in Ihrer Stadt leben 61.000 Menschen. Wie viele Flüchtlinge hat Bihać in den letzten vier Jahren beherbergt?
Šuhret Fazlić: Unsere Polizei geht inzwischen von 40.000 Flüchtlingen aus, und zwar in Bihać und in der Nachbarstadt Velika Kladuša.
Wurden Sie bisher von der EU genügend unterstützt?
Zu EU-Politikern fällt mir nur ein Wort ein: Heuchler. Es ist das eine, was sie ihren Wählern zu Hause erklären, doch es ist das andere, was sie konkret entscheiden. De facto hat man unsere Stadt mit den Flüchtlingen vier Jahre lang alleine gelassen. Das ist umso schlimmer, als ich aufgrund unserer komplizierten Verfassung in der Föderation BiH so gut wie keine Mittel habe, um selbst etwas bewegen zu können. Das ist auch nicht fair.
Jeden Tag neue Ankünfte: Haben Sie noch Sympathien für die Menschen, die Sie flehend um Hilfe bitten?
Wir selbst hatten hier in Bihać 1.000 Tage lang Krieg. Wir wissen, was es bedeutet, wenn man seine Heimat unfreiwillig verlassen muss.
Ist es tatsächlich so prekär wie die NGOs schildern?
Ohne die spontane Hilfsbereitschaft der Bewohner von Bihać, von denen viele selbst nicht viel haben, sowie von den Hilfsorganisationen, nicht zuletzt aus Italien und aus Österreich, hätten wir hier längst eine humanitäre Katastrophe erlebt. (Der Bürgermeister erwähnt explizit die österreichische Hilfsorganisation "SOS Balkanroute.)
Bihać im Februar 2022 - festgehalten von KURIER-Fotograf Jürg Christandl:
Stimmen die Vorwürfe, wonach kroatische Grenzpolizisten regelmäßig illegale Pushbacks verüben?
Die Brutalität, mit der hier zum Teil vorgegangen wird, ist doch längst auch mit Bildern dokumentiert. Es gab schon so viele Rückschiebungen, ohne dass man den Leuten die Chance auf ein faires Verfahren gegeben hätte. Dabei werden sie auch geschlagen, und es werden ihnen ihre Habseligkeiten abgenommen. Ich selbst wurde drei Mal Augenzeuge von solchen Vergehen.
Was haben Sie beobachtet?
Einmal kamen uns an der Grenze zwei iranische Flüchtlinge entgegen. Beide waren splitternackt, beide völlig erschöpft. Ich habe nichts gegen einen legalen Aufgriff, aber bitte nicht so.
Lokalaugenschein. 20.000 Euro habe er bisher in seine Flucht investiert, fünf Jahre sei er schon unterwegs. Erzählt der heute 31-jährige Bashir. In seiner Heimat (Pakistan) habe er als bildender Künstler gearbeitet, in Griechenland dann vier Jahre lang Obst verkauft und dabei Geld gespart. Sein Ziel (Belgien) ist aber noch immer in sehr weiter Ferne.
Im Flüchtlingslager Lipa, rund 25 Kilometer südlich von Bihać, gibt es jetzt immerhin Mindeststandards, wie sie in der Europäischen Union üblich sind. Mit EU-Geld, auch aus Österreich, wurde hier weit abseits der Straße, auf die grüne Wiese ein modernes Containerdorf gesetzt.
Selam Midžić vom Roten Kreuz ist grundsätzlich zufrieden mit dem neuen Camp, doch erklärt er auch: „Die EU hat uns zu lange im Stich gelassen.“ Der Standort weit abseits der Grenze sei zudem nicht ideal: „Weil niemand hierbleiben will.“
Die Flucht-Serie im KURIER: Nach dem Auftakt über Forscher und Forscherinnen, die in ihrer Kindheit aus Wien flüchten mussten, und dem heutigen Bericht folgen noch das Porträt einer Forscherin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften mit Fluchterfahrung sowie ein Besuch bei den neuen Kuratoren des Volkskundemuseums.
SOS Balkanroute ist eine humanitäre Initiative für ein menschenwürdiges Leben Geflüchteter in Südosteuropa. IBAN: AT20 2011 1842 8097 8400. Mehr hier.
Kommentare