Endstation Bihać: An der EU-Außengrenze zerschellen täglich Träume
„Baba Asim“ wird bereits erwartet. Um 17 Uhr kehrt Asim Karabegović in seinen kleinen Lebensmittelladen zurück. Vor dem Shop unweit der Polizeistation der Stadt Bihać wartet eine kleine Gruppe junger Männer. Sie begrüßen ihn mit Respekt. Sie sind froh, dass ihr „Baba“ wieder einmal nicht auf sie vergessen hat.
Der ehrenamtliche Helfer händigt ihnen ihre Mobiltelefone aus, die er hinter der Budel aufgeladen hat, und er gibt Telefonwertkarten aus, auch zu essen, zu trinken, Schuhe und Kleidungsstücke, Spenden, die aus Österreich eingetroffen sind.
Einen Schluck Wasser
Menschen wie „Baba Asim“ ist es zu verdanken, dass mitten in Europa Flüchtlinge weder verhungern noch erfrieren müssen. Bihać liegt nur 200 Kilometer Luftlinie südlich von Graz. Die 61.000-Einwohner-Stadt im Nordwesten der Föderation Bosnien und Herzegowina ist schon seit vier Jahren für viele Endstation auf ihrem Versuch, die EU zu erreichen.
„Die ersten Flüchtlinge standen vor meinem Laden, baten mich um einen Schluck Wasser und um was zum Anziehen“, erzählt der Sechzigjährige, der mit den jungen Leuten eine wilde Mischung aus Bosnisch, Englisch und Paschtu spricht.
Er registrierte dann in Bihać einen Stimmungswandel wie wir ihn auch aus Wien kennen: In die spontane Hilfsbereitschaft mischten sich binnen weniger Wochen erste kritische Töne. Ein Kunstlehrer sah seine Stunde gekommen. Mit Blick auf die anstehende Bürgermeisterwahl machte er Stimmung gegen die Fremden in der Stadt – und deren Helfer. Über Nacht wusste er mehr als 10.000 „Freunde“ hinter sich.
Stammkunden kommen nicht mehr in den Laden von „Baba Asim“, unter anderem mit dem Hinweis, „dass Flüchtlinge stinken“. Das ist für ihn und seine Familie umso schwerer zu verkraften, als ihm die Supermarktketten am Stadtrand seit Jahren das Wasser abgraben.
Seine Tochter meint: „Er kann einfach nicht anders.“ Er kann nicht wegschauen, wenn junge Männer mit frischen Verletzungen aus den an Kroatien grenzenden Wäldern zurückkehren. Oder der 22-jährige Shaban aus dem pakistanischen Punjab im Februar in Badeschlapfen vor ihm steht und mit hängenden Schultern erzählt, dass er bereits seit sechs Jahren auf der Flucht ist. Oder wenn ihm Ameenullah, der nicht weiß, ob er 20 oder 21 Jahre alt ist, Handyfotos vom zweijährigen Sohn in seiner Heimat, der afghanischen Provinz Nangarhar, zeigt.
Bihać im Februar 2022 - festgehalten von KURIER-Fotograf Jürg Christandl:
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Der unermüdliche "Baba Asim" fährt viele Quartiere außerhalb der Stadt an
Auffallend viele Flüchtlinge sprechen passabel Bosnisch – ein Hinweis darauf, dass sie schon seit Langem in BiH feststecken. Keiner will hierbleiben. Auch weil es keine Arbeit gibt. Von einem Pakistani wird erzählt, dass er 54 Mal von kroatischen Grenzbeamten gestoppt, dabei oft auch gedroschen wurde. Wobei nicht alle Polizisten an der EU-Außengrenze Schläger sind, wird auf Nachfrage bestätigt.
Asim Karabegović wirkt müde. Den halben Tag war er heute mit dem KURIER in der Umgebung von Bihać unterwegs, um Mehl, Zwiebel, Öl und andere Lebensmittel zu den Elendsquartieren zu bringen. Die Sachspenden, die er mit seinem alten Kombi transportiert, stammen von der NGO SOS Balkanroute. Längst hat er sich an den sehr markanten Gestank in den zerfallenen, zerschossenen Gebäuden gewöhnt. Sie erinnern auch an den Krieg in seiner Heimat. Es gibt weder Strom noch Gas noch Wasser. Ebenso fehlen sanitäre Anlagen. Gekocht werden muss daher bei offenem Feuer. Die Ziegelwände sind rußig schwarz. Manche halten das alles nicht mehr aus, schlafen im Freien – in Zelten.
„Baba Asim“ zündet sich abends noch eine letzte Zigarette an, dann sagt er ernst: „Viele warten noch in den Lagern in Sarajevo zu, doch wenn erst der Schnee oben auf unseren Bergen geschmolzen ist, dann werden sie kommen. Ehrlich gesagt, ich sehe da kein Ende.“
Die Ute Bock von Bihać
Er weiß immerhin einige andere Freiwillige auf seiner Seite. Auch die sind nicht begütert, sind aber ebenso entschlossen. Zur lokalen Heldin wurde „Mama Zemira“, quasi die Ute Bock von Bihać.
Anela Dedić stellt wiederum neben ihrem kleinen Hotel eine Lagerhalle zur Verfügung, wo die Sachspenden aus Österreich sicher zwischengelagert werden. Die Hotelbesitzerin muss morgen zum Gericht. Zwar hat besagter Bürgermeisterkandidat bei der Wahl unterirdisch abgeschnitten, dennoch hat sie ihn geklagt: „Er hat mir öffentlich unterstellt, dass ich Menschenhandel betreibe. Das muss ich mir nicht gefallen lassen.“
Auch Anela Dedić hat aufgrund ihres Einsatzes finanzielle Einbußen erlitten. Aufgeben will sie jedoch „auf keinen Fall“. Wir zeigen ihr den KURIER-Bericht über exzellente Wissenschafter, die in ihrer Kindheit vor den Nazis aus Wien flüchten mussten. Spontan erinnert sie sich an „den Piloten aus dem Irak und den Englisch-Professor aus dem Iran. Solche Leute könnten jederzeit in der EU arbeiten, auch unser Land würde sie dringend benötigen.“
Öfters bekommt sie Nachrichten auf ihr Handy. Von jenen, die es am Ende doch in die EU schafften, dort arbeiten, Steuern zahlen, Familien gründen und nun anbieten, einen Teil ihres Einkommens für die Balkanroute zu spenden. „Solche Nachrichten lese ich gerne“, sagt Anela Dedić. „Sie geben mir neue Kraft.“
In dieser Nacht geht erneut eine kleine Gruppe in den verschneiten Wald an der Grenze zur gelobten EU. Man wird auch sie aufgreifen.
Die Flucht-Serie im KURIER: Nach dem Auftakt über Forscher und Forscherinnen, die in ihrer Kindheit aus Wien flüchten mussten, und dem heutigen Bericht folgen noch das Porträt einer Forscherin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften mit Fluchterfahrung sowie ein Besuch bei den neuen Kuratoren des Volkskundemuseums.
SOS Balkanroute ist eine humanitäre Initiative für ein menschenwürdiges Leben Geflüchteter in Südosteuropa. IBAN: AT20 2011 1842 8097 8400. Mehr hier.
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