Zehn Jahre NSU-Enttarnung: Welche Fragen bis heute ungeklärt sind
Ihre Taten endeten mit einem Knall und in einem Wohnmobil, das am Rande einer Siedlung im thüringischen Eisenach in Flammen stand. Einsatzkräfte fanden darin zwei Leichen, bei denen es sich um die Rechtsterroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt handelte, die zusammen mit Beate Zschäpe seit Auffliegen ihrer Bombenwerkstatt 1998 untergetaucht waren. Den Ermittlern zufolge hatten sich die beiden Männer erschossen, ihre Komplizin zündete die gemeinsame Wohnung im sächsischen Zwickau an und stellte sich dann der Polizei. Sie wurde 2018 in München zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Richter sprachen sie unter anderem des zehnfachen Mordes und der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung schuldig.
13 Jahre lang hat sie als Teil des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) gemordet und geraubt, ohne festgenommen zu werden. Wie die Terroristen so lange unbehelligt bleiben konnten und wer ihre möglichen Helfer und Unterstützer waren, sind einige der zentralen Fragen, die sich bis heute stellen.
Dass damals zunächst in Richtung der Opfer ermittelt wurde – die Polizei ging von Drogengeschäften und organisierter Kriminalität aus – hat bei den Angehörigen Spuren hinterlassen. Gamze Kubaşık, Tochter des am 4. April 2006 in Dortmund ermordeten Kioskbesitzers Mehmet Kubaşık, erzählte jüngst im Interview mit dem WDR, wie sehr ihre Familie darunter litt: "Wir mussten echt damit kämpfen, nicht nur mit der Polizei, die damals die ganzen Gerüchte in die Welt gesetzt hat, sondern mit unserer Verwandtschaft, unseren Bekannten, den Leuten, die den Fall in den Medien mitbekommen haben. Das war eine sehr schreckliche und auch eine anstrengende Zeit für uns."
In einem Statement wandte sie sich nun an die Behörden und forderte Aufklärung: "Ich will wissen, warum die Morde und Anschläge nicht verhindert wurden. Ich will wissen, was Polizei und Verfassungsschutz wussten und warum deren Spitzel bis heute geschützt werden. Ich möchte, dass die NSU-Akten den Anwälten übergeben werden."
"Verstrickungen des Verfassungsschutzes"
Auch aus Sicht des Jenaer Soziologen und Rechtsextremismus-Experten Matthias Quent ist die Aufarbeitung des NSU-Komplexes noch lange nicht abgeschlossen: "Der Umgang mit dem NSU war in der Wahrnehmung eine Zäsur, weil er so lange ungestört agiert hat, wobei wir im Nachhinein gelernt haben, dass der Verfassungsschutz sehr nahe dran war durch verschiedene V-Personen."
So befand sich etwa der ehemalige V-Mann-Führer Andreas Temme am 6. April 2006 in einem Nebenraum, während Halit Yozgat in seinem Kasseler Internetcafé erschossen wurde. Temme behauptete, weder die Tat mitbekommen noch den sterbenden Yozgat gesehen zu haben. Für Quent sind die "Verstrickungen des Verfassungsschutzes eine der Sachen, die bis heute nicht restlos aufgeklärt" sind. Genauso wie die Motive hinter der Ermordung an der Polizistin Michèle Kiesewetter. "Auch das ist nicht überzeugend geklärt worden", erklärte Quent im Gespräch mit der Auslandspresse.
Mehr Achtsamkeit gegenüber Rassismus
Was sich seither aber verändert hat: Es gibt eine höhere Achtsamkeit gegenüber Rassismus und Rechtsradikalismus – wie er sie nach den Anschlägen von Hanau bei Politikern wie Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Innenminister Horst Seehofer (CSU) beobachtet hat. Auch der Verfassungsschutz schaue heute "mehr nach rechts als vor zehn Jahren", besonders seit der frühere Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen nicht mehr im Amt ist.
Maßnahmen, die im Bereich der Prävention und gesellschaftlichen Achtsamkeit vielversprechend waren, haben allerdings erst in den vergangenen drei oder vier Jahren eingesetzt, so Quent. Er findet, dass man den NSU-Komplex nicht nur als "Sicherheitsproblem" diskutieren soll und erinnert daran, dass damals auch die Medien rassistische Begriffe wie Döner-Morde reproduziert haben. Dies habe weder die Wissenschaft noch Zivilgesellschaft gesehen – "es gab eine gesellschaftliche Stimmung in der Rassismus nicht zur Kenntnis genommen wurde". Erst durch die Selbstermächtigung der Betroffenen und zivilgesellschaftlichen Initiativen, die sich mit dem NSU und rechtem Terror beschäftigt haben, habe sich etwas getan.
Chronologie des Terrors
Jänner 1998: Nach einer Razzia in ihrer Bombenwerkstatt in Jena tauchen Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe unter.
September 2000: Die Mordserie beginnt: Mundlos und Böhnhardt erschießen den türkischen Blumenhändler Enver Simsek in Nürnberg (Bayern).
Dezember 2000/Jänner 2001: Die Täter deponieren einen Sprengsatz im Lebensmittelgeschäft einer iranischstämmigen Familie in Köln. Die Tochter wird schwer verletzt.
Juni 2001: Der Türke Abdurrahim Özüdogru wird in seiner Änderungsschneiderei in Nürnberg erschossen, sein Landsmann Süleyman Tasköprü in Hamburg.
August 2001: Mord am Gemüsehändler Habil Kilic in München (Bayern).
Februar 2004: In Rostock (Mecklenburg-Vorpommern) wird der Imbiss-Verkäufer Mehmet Turgut erschossen.
Juni 2004: Eine Nagelbombe explodiert in der Kölner Keupstraße. Mehr als 20 Menschen werden verletzt, einige lebensgefährlich.
Juni 2005: Mord am Imbiss-Inhaber Ismail Yasar in Nürnberg. Wenige Tage später wird der Grieche Theodoros Boulgarides in seinem Münchner Schlüsseldienst erschossen.
April 2006: In Dortmund wird der türkischstämmige Kioskbetreiber Mehmet Kubasik erschossen. Zwei Tage später treffen tödliche Schüsse Halit Yozgat in seinem Internet-Café in Kassel (Hessen).
April 2007: Die Täter erschießen in Heilbronn (Baden-Württemberg) die Polizistin Michèle Kiesewetter. Ihr Kollege wird schwer verletzt.
November 2011: Sparkassen-Überfall in Eisenach (Thüringen). Böhnhardt und Mundlos verstecken sich in einem Wohnmobil. Den Ermittlern zufolge erschießen sie sich, als die Polizei sie entdeckt. Zschäpe zündet die gemeinsame Wohnung in Zwickau (Sachsen) an und stellt sich kurz darauf in Jena.
Juni 2012: Es wird bekannt, dass beim Verfassungsschutz Akten vernichtet wurden, nachdem die Terrorgruppe aufgeflogen war. Wegen der schweren Ermittlungspannen tritt der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Heinz Fromm, im Juli zurück.
November 2012: Die Bundesanwaltschaft erhebt Anklage gegen Zschäpe.
Mai 2013: In München beginnt unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen und von weltweitem Medieninteresse begleitet der Prozess gegen Zschäpe und vier Mitangeklagte.
Juli 2018: Zschäpe wird zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Gericht spricht sie unter anderem des zehnfachen Mordes und der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung schuldig. Die anderen Angeklagten bekommen mehrjährige Haftstrafen.
April 2020: Das schriftliche Urteil mit mehr als 3000 Seiten liegt vor. Die Anwälte können nun darauf reagieren und ihre Revisionen begründen. Der Mitangeklagte Carsten S. hat seine bereits zurückgezogen, das Urteil gegen ihn ist rechtskräftig.
August 2021: Der Bundesgerichtshof erklärt die Urteile gegen Zschäpe, den Waffenbeschaffer Ralf Wohlleben und den NSU-Helfer Holger G. für rechtskräftig.
Oktober 2021: Bei der Aufarbeitung der Mordserie gebe es noch immer offene Fragen, sagt der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang.
Kommentare