Covid-Politik: "Vielleicht kann China in neun Monaten wieder öffnen“
„Die Optionen in China sind jetzt alle mehr oder weniger hässlich“, sagt Jörg Wuttke. Dutzende Millionen Menschen sind im Corona-Lockdown, ein Fünftel der Wirtschaft ist blockiert, führt der Präsident der Europäischen Handelskammer in Peking aus.
Die Wut der Bevölkerung ist am Kochen, aber die Null-Covid-Politik radikal zu beenden würde die Infektionszahlen in die Millionen steigen lassen. Dennoch ist jetzt erstmal das Wort „Lockerungen" zu hören.
KURIER: Wie ist die Lage jetzt in Peking, nach den jüngsten Protesten?
Jörg Wuttke: Es ist total ruhig. Aber man merkt, welch ein tiefgehender Schock die Proteste für die Regierung waren. Bis Anfang des Jahres hat die Führung noch vom Nimbus ihres Erfolges mit der Null-Covid-Strategie gelebt. Es war ein Irrglaube anzunehmen, dass die Welt irgendwann einmal Omikron-frei sein und China dann wieder öffnen würde. Aber man kann China nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag geschlossen halten.
Wird es jetzt zu Lockerungen kommen?
Konkrete Zahlen kamen schon zwei Tage nach den Demonstrationen. So wird jetzt vorgegeben, wie viele Leute über 60 und 80 Jahren geimpft werden sollen. China hatte zuvor eine unglaublich gute Fähigkeit gezeigt, sehr viele Leute schnell zu impfen: 2020 und 2021 gab es bis zu 30 Millionen Impfungen pro Tag. Und dann haben sie es im Mai abgestellt. Wir sind momentan bei 100.000 bis 200.000 Impfungen pro Tag. Also wir sind schneckenmäßig unterwegs. Jetzt wieder eine richtige Impfkampagne zu machen, braucht aber Zeit.
Wird es auch weniger Lockdowns geben?
Das ist der nächste Schritt, und es wird schwierig. Bisher haben mehr Covidfälle dazu geführt, dass man mehr Lager baute. Das war bei 4.000 Corona-Fällen noch möglich. Aber wenn jetzt täglich Hunderttausende Fälle auf uns zukommen, kommt man mit dem Errichten solcher Lager gar nicht mehr nach. Deswegen muss man den Menschen jetzt sagen: Bleibt zu Hause und testet euch selbst. Das hat man ja in anderen Ländern, auch in Österreich, vorgemacht. Aber es muss noch viel passieren: Bei den meisten Menschen sitzt die Schreckensvorstellung sehr tief, dass sie vom „Weißen Mann“ eingesammelt werden. Allmählich ist die ganze Regierung zum „Weißen Mann“ geworden.
Die „Weißen Männer„ sind die Covid-Beauftragten in ihren Schutzanzügen?
Jeder hasst sie, aber sie tun ja auch nur ihren Job.
Wie oft waren Sie seit der Pandemie im Lockdown?
Drei Mal. Einmal, im Februar 2020, als ich von einer Europareise zurückkam. Dann zu Weihnachten 2020 zwei Wochen, weil irgendjemand im Bürogebäude coronapositiv war. Zwei Wochen mussten wir zu Hause verbringen, man hat einen Polizisten vor meine Tür gestellt, um sicherzugehen, dass ich nicht in der Nacht aus dem Haus rausgehe. Der letzte Lockdown war Ende Oktober. Als ich wieder zum falschen Zeitpunkt im falschen Hotel war, und wir dann fünf Tage lang zu Hause bleiben mussten – mit drei Kindern, Schwiegermutter und zwei Hunden.
Sie warnen davor, dass China das Land jetzt wieder sofort öffnet. Warum?
Das wäre schlimm. Die Öffnung muss nach und nach passieren. Dabei muss man versuchen, eine flache Kurve steigender Covidzahlen hinhinzubekommen zu bekommen: In China wären das pro Tag ein paar Hunderttausend Leute. Und es muss auch kommuniziert werden, dass sicherlich etliche Menschen daran sterben werden. Vor allem die, die nicht geimpft sind. Dann kann man vielleicht in sechs bis neun Monaten das Land allgemein öffnen. Und dann darauf hoffen, dass die Wirtschaft wieder anspringt und die Leute wieder Mut fassen.
Es hieß immer, die Chinesen akzeptieren ihr restriktives politisches System, solange es ermöglicht, Wohlstand zu generieren. Mit der Null-Covid-Politik kam das zu einem Halt. Warum gab es nicht schon früher Proteste?
Zunächst haben die Medien hier verbreitet: ,Uns geht es ja noch blendend’, und das hat bis Ende 2021 funktioniert. Dann fing die Welt wieder an, sich zu öffnen und mit Omikron zu leben. Währenddessen ging es in China im Mai wirklich spektakulär runter, etwa mit dem neun Wochen langen Lockdown in Shanghai. Aber dass wie Welt jetzt zweigeteilt ist, wurde den meisten Leuten hier erst durch die Fußballweltmeisterschaft in Katar bewusst. Über das Fernsehen sieht man: Da sitzen Leute ohne Maske und feiern.
Und das Zweite ist der Niedergang der Wirtschaft ...
Ich nehme an, dass ein Fünftel bis ein Viertel der Volkswirtschaft momentan blockiert ist. Man hat es ja beim produzierenden Gewerbe noch geschafft, dass die Leute dann auf dem Firmengelände leben. Das kann man aber nicht überstrapazieren. Denn bei Foxconn hat man gesehen, welche asoziale Umstände dort herrschen. Die meisten europäischen Firmen haben das noch sehr gut hinbekommen.
Ihre Mitarbeiter konnten jederzeit die Firma verlassen, in ein Hotel gehen und dann nach Hause. Aber das ist natürlich bei 200.000 Angestellten nicht mehr möglich. Man muss wirklich sehen: Wir sind hier an die Grenze des Möglichen und der Toleranz gekommen.
Das Geschäftsklima zwischen Europa und China hat sich in den letzten Jahren verschlechtert. Geht diese Entwicklung auf Präsident Xi Jinping zurück?
Die Hochphase des Aufschwungs war sicher der Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation, eine Art Sturm und Drangzeit rund um 2000 und die Folgejahre.
Präsident der Europäischen Handelskammer in China
Kaum ein Europäer kennt China so gut wie Jörg Wuttke. Der studierte Sinologe und Ökonom lebt seit mehr als drei Jahrzehnten mit seiner Familie im Reich der Mitte. Den radikalen Wandel Chinas erlebte er hautnah mit. Bei seiner ersten Reise nach China, 1982, waren Ausländer noch so selten, dass er ständig angehalten und gefragt wurde, ob man ein Foto mit ihm machen dürfe.
Er vertrat als Manager mehrere deutsche und europäische Unterrnehmen im wirtschaftlich aufstrebenden China. Seit meheren Jahren ist er Präsident der Europäischen Handelskammer in China. Diese hat mehr als 1.600 Mitglieder in sieben Bezirken, die Stützpunkte in neun chinesischen Städten unterhalten.
Später waren dann schon die Interessengruppen der chinesischen Industrie unterwegs, um Ausländer rauszuhalten. Und mit Präsident Xi kam die weitere Dimension des sehr triumphalen Auftretens und der Konfrontation mit anderen Ländern, vor allem mit den USA.
Wir Europäer sind in dieser großen Volkswirtschaft mit relativ kleinen Nummern unterwegs. Wir sind im Grunde genommen Nischenspieler.
Diese Phase der Öffnung war also eher die Ausnahme der chinesischen Wirtschaftspolitik?
Das war der Höhepunkt dessen, was Deng Xiaoping eingeführt hatte. Ich kam zum ersten Mal 1982 nach China, da fand gerade der zwölfte Parteitag statt, und es ging dabei um Öffnung, Integrierung. Jetzt habe ich gerade den 20. Parteitag mitgemacht, und nun war nur zu hören: ,Wir stehen alleine da, wir müssen kämpfen.' Das ist ziemlich bitter, nach so vielen Jahren zu sehen, dass China sich eher in die andere Richtung bewegt. Covid hat sicher dazu beigetragen
Gibt es noch europäische Unternehmen, die jetzt neu in China einsteigen?
Es kommt keiner neu nach China, das ist allein schon wegen der Reiserestriktionen nicht möglich. Die größten zehn europäischen Firmen dominieren und bleiben am Ball, aber die Kleinen stellen ihrer China-Operation auf Autopilot und machen neue Sachen eben woanders. In den Bereichen Chemie, Automobil, Maschinenbau gibt es aber kein zweites China. Da muss man hier mit dabei sein.
Können die europäischen Firmen in China unter diesen Umständen überhaupt noch arbeiten?
Das produzierende Gewerbe ist im großen Ganzen auch mit dabei. Man hat immer die Befürchtung, dass irgendwann die Lieferkette unterbrochen wird. Aber wer im Service-Sektor arbeitet, hat es schwer, Restaurants, der Tourismus liegt völlig brach.
Zum Beispiel der deutsche Bäcker bei mir um die Ecke. Zwei Wochen lang konnte er nichts machen. Diese Leute haben eine Überlebensfähigkeit von drei Monaten und danach den Laden für immer schließen. Und das ist nicht nur bei dem deutschen Bäcker so, sondern auch bei den meisten chinesischen Kleinunternehmern.
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