Ukraine-Präsident Selenskij: Vom Komiker zum Kriegsherren
"Wir sind nicht müde." Wolodimir Selenskij blickt durchdringend in die Kamera. Den Anzug, mit dem man ihn meist in TV-Ansprachen sah, hat er gegen einen schlammfarbenen Pullover getauscht. Und vom staatstragenden Hintergrund ist nicht viel geblieben. Wo das Video aufgenommen wurde, weiß man nicht – vermutlich verschanzt sich der Präsident der Ukraine in einem Bunker. Der "Feind hat mich zum Ziel Nummer 1 erklärt, meine Familie zum Ziel Nummer 2", sagte Selenskij. Dennoch werde er in Kiew bleiben.
Die Rolle, die der 44-jährige Ex-Komiker jetzt hat, wollte er nie spielen. Jahrelang unterhielt Selenskij als "Diener des Volkes" im Fernsehen die Massen, spielte einen naiven Lehrer, der zum Präsidenten wird. 2019 wurde Selenskij tatsächlich Staatschef, mit dem Versprechen, als politischer Outsider die Ukraine von jenen Führungsfiguren zu befreien, die sich seit Jahren auf Kosten der Bevölkerung bereichern – und im Osten nach Jahren des Krieges Frieden herzustellen.
"Er managt gut"
Das hat er nicht eingelöst, im Gegenteil. Er muss sich der schlimmsten Aufgabe stellen, die man als Staatschef haben kann: Sein Land vor der Okkupation bewahren. Seine Bevölkerung steht weitgehend hinter ihm: "Er managt die Krise gut", sagt Olga Tokariuk, Journalistin aus Kiew. Sie beobachtet den Polit-Quereinsteiger schon lang, bei den Ukrainern habe er in den vergangenen Tagen an Rückhalt gewonnen. Selbst Ex-Präsident Petro Poroschenko, den die Justiz strafrechtlich verfolgt, unterstützt nun seinen Nachfolger.
Die Popularität Selenskijs hat nicht nur mit seiner Erfahrung als TV-Entertainer zu tun, der vor der Kamera gut rüberkommt, sondern auch mit seiner ruhigen Art. Lange hatte er den Ukrainern erklärt, dass sich die Gefahr in Grenzen halte, holte geflohene Oligarchen zurück – das bewahrte das Land vor einem Sturm auf die Banken.
Es war nicht immer so, dass der Ex-Komiker als Fels in der Brandung wahrgenommen wird. Im Gegenteil: Seit Jahren hielten sich Gerüchte, dass er Millionen ins Ausland transferiert habe, die im Vorjahr veröffentlichten Pandora-Papers scheinen das zu erhärten. Das vermutete Konstrukt: Selenskij und sein Partner beim TV-Produktionsunternehmen Kwartal 95, Sergij Schefir, der nun auch Berater des Staatschefs ist, sollen von einem Oligarchen seit 2012 40 Millionen Dollar über Offshore-Firmen erhalten haben.
Der Oligarch ist Ihor Kolomoiskji, einer der schillerndsten ukrainischen Milliardäre, laut Forbes 1,8 Milliarden Dollar "schwer"; Ex-FPÖ-Chef Strache zählte ihn im Ibiza-Video zu seinen "ukrainischen Freunden", die sich "anscheißen, die Kohle nicht rauszubringen".
Geflossen sollen die Millionen über Kolomoiskjis TV-Sender 1+1 sein – dort lief auch Selenskijs beliebte TV-Show.
Noch 2021 soll seine Frau Elena Offshore-Gewinne bezogen haben. Er selbst soll knapp vor seiner Wahl zum Präsidenten einige seiner Offshore-Firmen Sergij Schefir übertragen haben. Dieser stammt wie Selenskij selbst aus der russischsprachigen Industriestadt Kriwij Rig – erst als Erwachsener eignete er sich mühsam Ukrainisch an, bei seiner Wahl waren diese Kenntnisse noch nicht sehr ausgeprägt.
Mann des Ostens
Dies zeigt klar, dass der 44-Jährige ein Mann des Ostens ist. Dementsprechend fuhr er in dieser Region, eben auch in den Provinzen Lugansk und Donezk, die besten Wahlergebnisse ein.
Nun schwört Selenskij die Bürger darauf ein, dass der Krieg zu gewinnen sei.
Am Freitag zeigte er sich erneut – gemeinsam mit Ministerpräsident Denys Schmyhal sowie den Chefs der Präsidialverwaltung in einem Video-Clip in der Hauptstadt: "Wir sind alle hier, wir sind in Kiew – und wir verteidigen die Ukraine."
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