Was der Selenskij-Trump-Eklat für die EU bedeutet

Was der Selenskij-Trump-Eklat für die EU bedeutet
Die Eskalation beim Treffen zwischen Selenskij und Trump ist auch ein Tiefpunkt der Allianz Washington – Brüssel. Wie es jetzt weitergeht und ob Europa die Ukraine auch alleine retten könnte.

Zusammenfassung

  • In Europa zeigt man sich über den Schlagabtausch zwischen Trump und Selenskij schockiert. 
  • Ein Ende der US-Unterstützung für die Ukraine könnte katastrophale Folgen haben, militärisch wie wirtschaftlich.
  • Bei einem Sondergipfel in London beraten die Staats- und Regierungschefs am Sonntag, wie Europa nun weitermacht. 

Vom Vorwurf, der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij sei für die Hilfe der Amerikaner nicht dankbar genug, bis hin zur Drohung, die USA würden die Ukraine ganz einfach nicht mehr unterstützen, wenn er nicht für Frieden bereit sei: Es war ein emotionaler und historischer Schlagabtausch, den sich US-Präsident Donald Trump, sein Vize JD Vance und Selenskij am Freitag vor laufender Kamera im Oval Office lieferten.

Schon jetzt ist klar: Dieses Treffen stellt jene Zäsur in der US-Ukrainepolitik und auch im Verhältnis zwischen Amerika und Europa generell dar, die seit Langem befürchtet wurde. Die wichtigsten Fragen und Antworten dazu.

Wie ist dieser historische Eklat einzuordnen? 

Es waren drastische Worte, mit denen EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas auf die Auseinandersetzung reagierte: „Heute ist klar geworden, dass die freie Welt einen neuen Anführer braucht“, sagte sie. Experten stimmen ihr dahin gehend zu, dass dieser Streit eine deutliche – und für Europa schmerzliche – Verschiebung in der westlichen Weltordnung besiegelt und einen Tiefpunkt in der jahrzehntelangen Freundschaft zwischen Washington und Brüssel beweist.

Dass die „westlichen Werte“, auf denen diese Allianz immer basierte, zunehmend auseinanderbrechen, zeigten bereits die vergangenen Wochen, die ersten fünf der neuen Trump-Administration.

Nun scheint der US-Präsident aber auch die entscheidende Frage klar und brutal beantwortet zu haben, wie weit er in Sachen Ukraine tatsächlich gehen würde, um seine eigene Vision für die Welt – eine, in der die USA von möglichst vielen Seiten profitieren – umzusetzen.

Es könnte Trump hier vor allem darum gegangen sein, die Beziehungen zu Russland zu normalisieren. Jüngste Aussagen seiner Regierung deuten auf wirtschaftspolitisches Kalkül hin. Vermutlich geht es um Energieprojekte, aber Ökonomen ist gar nicht genau klar, was Russland den USA bietet.

Anders ist das bei der Ukraine: Trump und Selenskij hätten einen Deal unterschreiben sollen, mit dem die USA sich kritische Rohstoffe in der Ukraine gesichert hätten. Daraus wurde nichts. Eine erste Reaktion aus Moskau war äußerst hämisch und beleidigend: „Das undankbare Schwein bekam eine kräftige Ohrfeige von den Besitzern des Schweinestalls. Das ist nützlich", so Dmitrij Medwedjew, stellvertretender Leiter des russischen Sicherheitsrates.

Was würde es für die Ukraine bedeuten, wenn die USA sie nicht mehr unterstützen?

Liefern die USA keine Waffen mehr, könnte das katastrophale Folgen für die Ukraine haben. Laut Schätzungen würde das Land noch ungefähr ein halbes Jahr lang mit den Lieferungen auskommen, die Trumps Vorgänger Joe Biden eingeleitet hatte. Besonders die Artilleriemunition würde fehlen, zudem Ersatzteile für US-amerikanische Waffensysteme – etwa die Raketen für die Flugabwehrsysteme des Typs Patriot.

Laut Oberst Markus Reisner vom Österreichischen Bundesheer sind die ukrainischen Truppen nach drei Jahren Krieg stark ausgedünnt. Zudem sei die kritische Infrastruktur in der Ukraine nach drei Jahren Krieg zu 80 Prozent zerstört bzw. beschädigt, weshalb sie selbst kaum Waffen produzieren kann: „Wenn Trump die Hilfslieferungen einstellt, wird es knapp. Dann kann es sehr schnell zu einem Dammbruch kommen“, so der Militärexperte am Samstag zu Ö1.

Es herrscht zusätzlich große Sorge, die USA könnten der Ukraine das Internet über Elon Musks, für den Krieg enorm wichtige, Starlink-Terminals abdrehen. 

Fallen die US-Gelder für humanitäre Hilfe sowie für den ukrainischen Staatshaushalt gänzlich weg, drohen der Ukraine außerdem eine humanitäre Krise und ein Wirtschaftskollaps.

Könnte Europa diese riesigen Lücken füllen?

„Wir hätten das industrielle, ökonomische und rüstungstechnologische Potenzial dafür“, sagt Reisner in Bezug auf Waffenlieferungen. Aber um dieses Potenzial umfänglich zu nützen, müsste man sehr viel Geld investieren.

Ein anderer österreichischer Militärexperte, Gustav Gressel, sagte der Tagesschau, Europa müsse jetzt einen Kassasturz machen: „In vielen Munitionsklassen ist die EU mittlerweile in der Lage, die Amerikaner zu ersetzen, weil wir seit zwei Jahren mehr produzieren.“ In anderen Bereichen habe man das verabsäumt.

Es wäre laut ihm auch gut gewesen, wenn man noch mit Biden Lieferrahmenverträge geschlossen hätte. So etwas könne man auch jetzt noch versuchen. „Sonst müssen wir umschichten“ – etwa in Form von mehr europäischen Kampfflugzeugen, damit die Ukraine wenigstens stärker aus der Luft statt vom Boden aus schießen könnte. Für die Ukraine würde es aber jedenfalls schwieriger.

Wie geht es weiter?

Ob in der EU überhaupt genügend politischer Wille vorhanden wäre, um die US-Waffenlieferungen zu substituieren, darüber beraten die Staats- und Regierungschefs bei einem Sondergipfeltreffen am Sonntag in London. Am Donnerstag folgt ein weiteres Treffen in Brüssel. Selenskij traf schon am Samstag in London bei Keir Starmer ein und erhielt eine Zusage: 2,74 Milliarden Euro Kredit für die Stärkung der Verteidigung. Frankreich ist sogar zu Gesprächen über eine atomare Abschreckung für Europa bereit.  

Angesichts der teils knappen Budgets in einigen Mitgliedsstaaten sowie erstarkender prorussischer Kräfte in der Union ist man sich uneinig, wo die Grenzen der Unterstützung für die Ukraine liegen sollen. Ungarns Premier Viktor Orbán etwa drohte bereits damit, weitere Hilfen für die Ukraine zu blockieren, und forderte direkte Gespräche mit Russland.

Abzuwarten ist außerdem, wie Selenskij und Trump sich in den nächsten Tagen geben. Der ukrainische Präsident ließ wissen, er werde sich nicht entschuldigen. Er bedankte sich aber bereits im Nachhinein mehrmals bei den USA für ihre Hilfe.

Seit Kriegsbeginn besteht die Sorge, dass der Kreml – sollte der Konflikt für ihn siegreich enden – versuchen könnte, die ex-sowjetischen NATO-Staaten, etwa im Baltikum, anzugreifen. In diesem Fall müsste die gesamte NATO eingreifen, wie es Artikel 5 des Nordatlantikvertrags vorsieht. Ob Trump sich daran halten würde, ließ er bisher offen – was für große Unruhe sorgt.

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