Links ist nicht woke, oder: "Nicht in Gender-Fragen verzetteln"
Die amerikanische Philosophin und bekennende Linke Susan Neiman über das grobe Missverständnis der „kulturellen Aneignung“ und den Unfug der Identitätspolitik
Susan Neiman wirft „ihrer“ Linken vor, sich in Nebenthemen zu verzetteln. Die deutsch-amerikanische Philosophin ist am Sonntag eine der hochkarätigen Teilnehmerinnen beim sechsten Vienna Humanities Festival über die (falschen) Versprechen und Verheißungen unserer Zeit. Mit dem KURIER sprach sie vorab über linke Irrwege und rechte Zielstrebigkeit.
KURIER: Sie sind eine prononciert Linke und haben ein Buch geschrieben, das „Links ist nicht woke“ heißt – warum?
Susan Neiman. Das Buch entstand aus Gesprächen mit Freunden in vielen Ländern. Ständig berichteten sie über irgendein Woke-Phänomen, um dann zu sagen: „Ich glaube, ich bin nicht mehr links.“ Da sagte ich meiner Freundin Eva Illouz: „Nein, Du warst immer links – die sind nicht mehr links.“ Und ich wollte warnen: Wenn Linksliberale über Kleinigkeiten streiten, profitieren nur die Rechten.
Die Linke verzettelt sich in identitätspolitischen Debatten – das hat auch Sahra Wagenknecht schon gesagt.
Ich teile einige ihrer Thesen, aber überhaupt nicht ihre Haltung gegenüber Russland und Europa.
Die sozialdemokratischen Parteien in Europa sind am absteigenden Ast. Auch, weil sie sich nicht um ihre wirklichen Themen kümmern?
Auch, ja klar. Ich kenne viele Menschen, die entmutigt sind und meinen, sie haben keine politische Heimat mehr. Die wollen sich nicht in Debatten über kulturelle Aneignung oder symbolische Gender-Sprachfragen verzetteln.
Wokeness steht für Wachsamkeit gegenüber mangelnder sozialer Gerechtigkeit und Rassismus – was ist daran und an Identitätspolitik schlecht?
Ich benutze das Wort Identitätspolitik nicht. Es setzt nämlich voraus, dass die recht haben, die meinen, unsere Identität besteht nur aus zwei Dingen: ethnische Herkunft und Geschlecht, und wir ließen uns von zwei Faktoren bestimmen, über die wir keine Kontrolle haben.
Und das stimmt nicht?
Nein, weil das alles Andere, das unsere Identität ausmacht, und das ist viel viel mehr, als trivial angesehen würde. In diese Falle gehe ich nicht.
Wenn eine Pensionisten-Tanzgruppe in mexikanischen Kostümen auftritt oder ein Weißer mit Rastalocken Reggae singt – ist das kulturelle Aneignung?
(lacht) Kultur ist Aneignung. Kultur ist kein Konsumgut, das einem einzigen Stamm gehört. Kultur lebt davon, dass mehrere Elemente aus mehreren Kulturen sich vermischen. Im Falle solcher Verkleidungen stellt sich nur die Frage des Geschmacks: Man möchte hoffen, dass Menschen, die sich mit anderen Kulturen beschäftigen, ein bisschen Geschmack haben.
Oft fühlt sich ja nicht der Jamaikaner veräppelt, sondern die Weißen in Europa schwingen sich zur „Rettung“ der Jamaikaner auf.
Sehr oft ist es genau so, nicht immer. Sie erinnern sich an Amanda Gorman, die junge schwarze Lyrikerin, die bei der Inauguration von Joe Biden aufgetreten ist. Das war ein Riesenerfolg, ging um die Welt, und Frau Gorman hat für die Übersetzung in den Niederlanden einen holländischen Schriftsteller gewählt, dessen Lyrik sie mochte – ein sinnvoller Grund. Und auf einmal meldete sich eine schwarze Fashion-Bloggerin und sagte: Nein, nur eine schwarze Frau kann eine schwarze Frau übersetzen. Das ging durch Europa, fertige Übersetzungen wurden gecancelt, in Deutschland wurde eine Kommission von drei Frauen als Übersetzer eingesetzt. Aber es ist ganz falsch anzunehmen, dass jeder, der aus einer Minderheitsgruppe oder einer Ex-Kolonie kommt, die gleiche Haltung hat.
Apropos Kolonien: Sollen Columbus-Statuen stürzen oder Kaiser Franz Joseph, weil der die Katastrophe des 20. Jahrhunderts ausgelöst hat?
Wenn wir alle Denkmäler aller Schurken der Welt stürzen, verlieren wir auch einen Teil unserer Geschichte. Aber ich bin sehr für die Kontextualisierung – man muss darauf hinweisen, dass Columbus ein Mörder war.
Wer in der LGBTQ-Debatte dagegen hält und als Wissenschafter sagt, es gibt nur zwei Geschlechter, wird ausgegrenzt und delegitimiert. Haben wir Diskurs verlernt?
Ja. Das sehen wir jeden Tag, absolut.
Man darf nicht mehr sagen, was nicht der erwarteten Meinung entspricht?
Genau, aber die Rechte verfährt genauso. Ich lasse mich da nicht instrumentalisieren. In den USA kommt das Canceln viel mehr von rechts – Martin Luther King oder Toni Morrisson, die große Nobelpreisträgerin, dürfen in verschiedenen Bundesstaaten nicht mehr in der Schule gelesen werden.
Es sind ja oft Rechtspopulisten, die sich über Cancel culture, kulturelle Aneignung etc. lustig machen.
Die sind die, die es laut sagen. Die Linken sagen’s wenn, dann nur unter Freunden, aus Angst, dass es von Rechten instrumentalisiert wird. Der Begriff „woke“ ist so schwer zu definieren, weil er inkohärent ist. Er speist sich aus linksliberalen Emotionen, man möchte auf Seiten der Unterdrückten stehen, den Marginalisierten helfen, der Verbrechen der Geschichte gedenken ...
Das wäre ja gut gemeint.
Genau, und das ist das Gegenteil von gut. Diese Emotion, die ich teile, wird von sehr reaktionärem Gedankengut unterminiert.
Donald Trump hat sich nach der Frauenfußball-WM über die Wokeness der „linksradikalen“ Fußballerinnen lustig gemacht. Gewinnt er mit dem Feindbild „System“ und „Woke“ die Wahl?
Ich bin Philosophin und keine Prophetin, aber ich bin in großer Sorge.
Weil?
Das wäre der volle Faschismus. Seine Anhänger haben Waffen. Und wenn er verurteilt wird, befürchte ich, dass seine Anhänger das nicht akzeptieren. Eine Wahlniederlage würden sie auch nicht akzeptieren.
Trump rückt die Linke in die Nähe des Kommunismus, den heute kaum noch jemand in den USA erinnert. Ist das eine Renaissance der McCarthy-Ära?
Schlimmer. Damals kannten die meisten Leute einen Kommunisten und sahen, der ist nicht des Teufels. Es gab eine Arbeiterbewegung, Sozialisten, die waren real. 1949 hat Albert Einstein einen Text geschrieben mit dem Titel „Warum Sozialismus“. Heute haben viele auch Angst, sich Liberale zu nennen. Sozialismus wird mit Gulag gleich gesetzt (UdSSR-Gefangenenlager, Synonym für das sowjetische Repressionssystem, Anm.).
Zurück nach Europa: Was würden Sie der Linken zur Regeneration empfehlen?
Mein Buch zu lesen natürlich (lacht). Im Ernst: Ich plädiere dafür, dass Linksliberale wieder die Werte der Aufklärung schätzen lernen. Die Aufklärung ist verschrien als eurozentristisches, patriarchalisches Herrschaftsinstrument. Das ist vollkommen falsch, aber so lange es geglaubt wird, können wir die Prinzipien der Aufklärung nicht wertschätzen. Und die Linke verzettelt sich, sieht nicht die Gefahren, die überall lauern. Die Rechtsradikalen verstehen sich untereinander in Europa blendend, die lernen voneinander und teilen Strategien – und wir streiten über kulturelle Aneignung.
Zur Person
In Atlanta, Georgia, in einer jüdischen Familie aufgewachsen, studierte die bekennende Linke Susan Neiman (68) Philosophie in Harvard und Berlin. Kämpferin gegen Vietnam- und Irak-Krieg, Wahlkampfhelferin für Barak Obama. Professorin an den Unis Yale und Tel Aviv. 2015, nach dem Wahlsieg Donald Trumps, nahm sie auch die deutsche Staatsbürgerschaft an. Seit 2000 ist sie Direktorin am Einstein Forum in Potsdam.
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