Sahra Wagenknecht: "Links steht nicht mehr für Gerechtigkeit"
KURIER: Frau Wagenknecht, Sie haben ein neues Buch geschrieben und deswegen ein Parteiausschlussverfahren am Hals.
Sahra Wagenknecht: Offenbar sind die Antragsteller wild entschlossen, meine These zu bestätigen, dass Teile des linken Spektrums ein Problem mit Toleranz und einem respektvollen Umgang mit abweichenden Meinungen haben. Aber man muss auch sehen: Die Anträge wurden von Einzelnen gestellt, die Parteispitze hat das zurückgewiesen, und ich bekomme unglaublich viel Unterstützung von Mitgliedern und Wählern. Mein Buch steht seit Wochen ganz oben in den Bestsellerlisten.
Ihnen wird vorgeworfen, Sie würden Menschen und Bewegungen beleidigen, die sich für eine andere Klimapolitik und gegen Rassismus einsetzen. Sie schreiben von „skurrilen Minderheiten“ und „Marotten“, das klingt sehr hart.
Dass Menschen heute gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften eingehen können und die gleichen Rechte haben, ist ein großer Erfolg. Aber wenn die Gender-Theorie uns weismachen will, es gebe keine biologischen Unterschiede zwischen Mann und Frau, ist das mindestens skurril. Oder wenn Antirassismus so verstanden wird, dass die Hautfarbe darüber entscheidet, worüber jemand reden darf.
Diese Debatten finden eher auf Twitter zwischen Journalisten und Politikern statt. Machen Sie da nicht etwas größer, als es ist?
Es ist ein ganz kleines Spektrum, aber es findet in den Medien und Parteien einen starken Widerhall und bestimmt am Ende Politik. Das geht an der Lebensrealität vieler Menschen vorbei. Gendersternchen und andere Sprachverfälschungen entscheiden ganz sicher nicht darüber, ob Frauen die gleichen Löhne bekommen wie Männer.
Aber Sprache schafft Bewusstsein. Dafür sind heute mehr Menschen sensibilisiert. Erleben wir da vielleicht gerade auch einen Generationenkonflikt?
Es geht nicht um Jung gegen Alt, sondern um einen kleinen Teil von jungen Akademikern aus gut situierten Familien, die sich über diesen Bereich politisiert haben und die Debatte bestimmen. Es gibt viele junge Leute, die ganz andere Nöte haben: Bekomme ich einen unbefristeten Job? Kann ich von meinem Verdienst leben? Wie sieht es mit der Absicherung im Alter aus?
Aber es ist doch ein linkes Anliegen, dass Menschen durch Sprache nicht diskriminiert werden?
Es gibt offen rassistische und homophobe Begriffe. Dass sie geächtet sind, ist gut. Aber wem ist gedient, wenn ich jetzt Bürger_innen sage oder Fußgehende statt Fußgänger? Diese künstliche Sprache ist selbst ausgrenzend. Viele Menschen, die andere Sorgen haben als sich mit den ständig neuen Regeln korrekten Sprechens zu beschäftigen, werden dadurch ihrer Sprache beraubt, denn ihre Art, sich auszudrücken, wird verächtlich gemacht.
CDU-Politiker Friedrich Merz brachte kürzlich ein Verbot von gendergerechter Sprache ins Spiel.
Wer gendern will, soll gendern, aber er soll nicht so tun, als ob jemand, der das nicht macht, ein rückschrittlicher Mensch wäre. Das Problem sind die selbst ernannten Erziehungsbeauftragten, die anderen vorschreiben wollen, wie sie zu reden haben. Lediglich in offiziellen Behördentexten würde ich die Genderei und die Sprachungetüme tatsächlich verbieten. Hier sollte korrektes Deutsch benutzt werden, das jeder verstehen kann.
Im Buch kritisieren Sie „Lifestyle-Linke“, wo treffen Sie diese an?
Vor allem bei den Grünen, aber auch in der SPD, bei den Linken und im Journalismus. Sie haben etwas Missionarisches, das macht die Debatte so schwierig.
Engagement für Bedürfnisse bestimmter Gruppen und soziale Fragen klingt bei Ihnen wie ein Widerspruch, das kann ja einhergehen.
Was zusammenpasst, ist der Einsatz für soziale Gerechtigkeit und für gleiche Rechte. Aber die Lifestyle-Linken kämpfen nicht für Gleichheit, sondern blasen Unterschiede in der sexuellen Orientierung und der Abstammung zu fundamentalen Trennlinien auf, die darüber entscheiden sollen, wer sich zu bestimmten Themen äußern darf und wer nicht. Das spaltet und zerstört Gemeinsamkeit. Armut ist genauso schlimm, wenn sie jemanden mit deutschen oder zugewanderten Eltern trifft.
Ihre Partei kämpft mit der Sechs-Prozent-Marke. Die SPD steht bei 15 Prozent, eine linke Mehrheit ist weit entfernt. Was läuft da falsch?
Die SPD hat mit der Agenda 2010 und den Rentenkürzungen viel Glaubwürdigkeit verloren. Außerdem sind eben auch in ihr viele Funktionäre mit Themen unterwegs, die den Normalbürger eher vergraulen. Das Gleiche gilt leider für einen Teil meiner Partei. Linke Politik bedeutet für mich, sich für Menschen mit schlechten Löhnen, harten Jobs und Zukunftsängsten einzusetzen. In den Augen vieler Menschen steht das Label links heute aber nicht mehr für soziale Gerechtigkeit, sondern eher für Selbstgerechtigkeit. Deshalb wenden sich viele ab und suchen auf der anderen Seite des politischen Spektrums ihre Interessenvertreter.
Was meinen Sie konkret?
Wenn etwa unter dem Vorwand des Klimaschutzes Sprit- und Heizkosten verteuert werden, trifft das vor allem die untere Mitte und die Ärmeren, die in der Regel gar keine Alternative haben. Wer auf dem Land lebt, ist auf das Auto angewiesen und den smarten Tesla können sich die meisten nicht leisten. Also fahren sie weiter in ihrem Verbrenner, müssen aber mehr zahlen und werden auch noch als Umweltsünder diffamiert.
Wie würden Sie denn beim Klimaschutz handeln?
Wir müssen den öffentlichen Nah- und Fernverkehr ausbauen und günstiger machen. Außerdem brauchen wir neue, grüne Technologien, um zu produzieren. Und wir müssen die Wegwerfwirtschaft überwinden. Produkte werden heute oft extra so konstruiert, dass sie schnell kaputtgehen und dann fliegen sie auf den Müll, weil sie nicht reparabel sind. Das ist eine enorme Ressourcenverschwendung.
Wenn man sich jetzt aber das Wahlprogramm Ihrer Partei ansieht, klingt es weniger abgehoben, als sie andeuten. Es geht um einen höheren Mindestlohn, Mietendeckel und Millionärssteuer, keine Gendersternchen.
Ja, es hat sich seit dem ersten Entwurf deutlich in Richtung einer stärkeren Betonung sozialer Themen verändert. Darüber bin ich sehr froh.
Aber zieht das Thema noch? Bis auf Thüringen hat die Linke in Ostdeutschland massiv verloren. Zuletzt in Sachsen-Anhalt, obwohl sie Ungleichheiten zwischen Ost- und West thematisiert hat.Es gab Umfragen, wonach „soziale Sicherheit“ eines der wichtigsten Anliegen der Wähler war. Das Problem: Die Menschen identifizieren das nicht mehr mit uns.
Die AfD hat in Sachsen-Anhalt mit Ihrem Gesicht und dem Slogan „Zuwanderung begrenzen“ geworben. Sie haben angekündigt, juristisch dagegen vorzugehen.
Das Verfahren läuft. Ich hoffe, dass die AfD unterliegen wird, das ist für spätere Wahlkämpfe wichtig.
In der AfD bekommen sie vor allem für den Satz Applaus.
Ist er deshalb falsch? Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit der Bevölkerung gegen hohe Zuwanderung ist. Die meisten akzeptieren, dass man Verfolgten helfen muss. Insgesamt muss Migration aber begrenzt werden, weil die damit verbundenen Probleme an Schulen oder am Wohnungs- und Arbeitsmarkt sonst nicht zu lösen sind.
Sie schreiben dazu im Buch: „Viele fanden gar keine Arbeit mehr, weil Unternehmen lieber die deutlich fügsameren Migranten einstellten.“ Das klingt, als wären diese Schuld und setzt Menschen in Konkurrenz zueinander.
Es geht nicht darum, wer schuld ist, sondern um eine objektive Konkurrenz, die von den Unternehmen ausgenutzt wird, um die Löhne zu drücken. Jemand aus einem ärmeren Land bringt andere Maßstäbe mit. Wenn rumänische Arbeitnehmer in der deutschen Fleischindustrie für Armutslöhne unterhalb des Mindestlohns schuften, ist der Grund natürlich, dass die Bedingungen in Rumänien noch schlechter sind. Aber im Ergebnis führt das dazu, dass die Löhne für alle sinken und Unternehmen noch mehr Gewinne machen.
Sie haben 2018 mit „Aufstehen“ eine parteiübergreifende Bewegung für sozialere Politik gegründet – ohne großen Erfolg.
Ich würde eine Bewegung, die in kürzester Zeit 170.000 Mitglieder hat, nicht als erfolglos bezeichnen. Das Problem war, dass Aufstehen in der Hoffnung gegründet wurde, SPD und Linke zu verändern, und das Projekt trotz seiner großen Resonanz in den Vorständen beider Parteien komplett abgelehnt wurde. Um eigenständig Politik zu machen, hätte Aufstehen bei Wahlen antreten, also selbst eine Partei werden müssen. Ich wollte aber keine Konkurrenz zu meiner eigenen Partei gründen.
Wenn man sich die Kommentare unter Interviews mit Ihnen durchliest, fordern die einen, dass Sie die Linke verlassen. Andere hoffen, Sie gründen eine eigene Partei. Was sind Ihre Pläne?
Ich bin Spitzenkandidatin der Linken in Nordrhein-Westfalen und natürlich kämpfe ich jetzt darum, dass die Linke ein gutes Ergebnis bekommt. Ohne die Linke im Bundestag würden viele soziale Fragen gar nicht mehr angesprochen.
Zur Person:
Geboren 1969 in Jena als Tochter einer Deutschen und eines Iraners. 1989 trat sie in die SED ein, weil sie sich als Marxistin verstand. Sie studierte Philosophie und Neuere Deutsche Literatur und war in der SED-Nachfolgepartei PDS Wortführerin der Kommunistischen Plattform.
Mittlerweile ist Wagenknecht die bekannteste Linken-Politikerin Deutschlands, die so häufig wie kein anderes Mitglied ihrer Partei in Talkshows sitzt. Innerhalb der Linken führen ihre Thesen und Positionen immer wieder zu Konflikten. Manche werfen ihr vor, spalterisch zu sein. 2018 gründete sie die linke Bewegung „Aufstehen“, die sich nach einem Jahr zerstritten hat. Nach Aufgabe des Fraktionsvorsitzes 2019 und einem Burn-out will sie wieder in den Bundestag. Zuletzt erschien ihr Buch „Die Selbstgerechten“ (Campus Verlag)
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