Wie türkische Medien das Referendum kommentieren
Die türkischen Medien hätten das Wahlvolk nicht ausgewogen informiert, lautet ein Vorwurf, der die OSZE-Wahlbeobachter von einer "unfairen Wahl-Kampagne" sprechen ließ. Viele Medien seien gleichgeschaltet, insbesondere der staatliche Rundfunk voll auf Regierungskurs. Online finden sich aber auch viele Gegenstimmen, die Einblicke in Teilaspekte der Wahl geben.
"Sabah"
Mehmet Barlas ist in der Regierungs-nahen Zeitung Sabah, die am Montag noch mit den Worten "Die Revolution des Volkes" titelte, um Versöhnung der beiden Lager bemüht. Erverweist unter anderem auf die USA. "Es ist verständlich, dass es vor jeder Wahl verschiedenste politische Lager gibt, das ist kein Zustand der nur die Türkei betrifft. Am besten konnte man das im amerikanischen Wahlkampf beobachten. Haben nicht die Gegner von Trump auch gesagt sie würden das Land bei einem Sieg Trumps verlassen? Auch bei den bevorstehenden Wahlen in Frankreich kann man die Bildung zweier Lager erkennen. (…)" Barlas will den Wahlkampf Wahlkampf sein lassen und den Blick nach vorne richten. "Jeder hat gesagt was er denkt, einige dieser Aussagen schossen übers Ziel hinaus und waren nur mehr hasserfüllt. Aber am Schluss haben die Wähler entschieden und ab diesem Punkt sollten wir, und allen voran die Politiker, sich wieder an die Arbeit begeben."
"Milliyet"
Güneri Civaoglu thematisiert in der konservativen Tageszeitung Milliyet, einer der ältesten Zeitungen der Türkei, das Dilemma der Opposition. "Auch wenn das Ergebnis knapp war, hat sich das Volk für einen Systemwechsel entschieden (...) Jetzt müssen Parteien, die regieren wollen, einen starken Anführer finden. Ich rede von Kalibern die mit Erdogan mithalten können. Auch wenn es so aussehen mag, dass Kemal Kilicdaroglu die "Nein" - Kampagne alleine geleitet hat, werden weder er, noch der MHP-Vorsitzende Devlet Bahceli diese Figuren sein." Knapp die Hälfte der Türken mag für "Nein" gestimmt haben, was jedoch nicht heiße, dass sie sich für Kilicdaroglus, den Vorsitzenden der kemalistischen CHP gestimmt hätten. Will die Opposition bei den Wahlen 2019 gegen Erdogan bestehen, müsse sie - allen voran die CHP - neue Führungsfiguren hervorbringen.
"Hürriyet Daily News"
Barcin Yinanc analysiert in der Online-Ausgabe der Hürriyet Daily News – der ältesten englischsprachigen Tageszeitung des Landes – das Wahlverhalten der Konservativen. Ausgehend von den letzten
Wahlen, bei der es eine Mehrheit von 60 Prozent gab, die entweder die religiös-konservative AKP (rund 50 Prozent) oder die nationalistische MHP (rund 10 Prozent) gewählt haben, hätte der Sieg für Erdogan doch deutlicher ausfallen müssen. Dass jetzt nur noch rund 51 Prozent (in der Türkei) für Erdogan stimmten bedeutet also auch, dass viele Konservative ins andere Lager übergelaufen sind. Schätzungen sprechen von fünf Millionen Konservativen, die sich am Sonntag gegen Erdogan entschieden, 30 Prozent der MHP-Anhänger sollen mit "Nein" gestimmt haben. Dass das nicht gereicht habe, liege an einer "unfairen Kampagne", die mitten im Ausnahmezustand stattgefunden habe.
Bei der Präsidentschaftswahl 2014 und den Parlamentswahl 2015 habe die Opposition ihre Hoffnungen noch auf die kurdischen Stimmen konzentriert. Mit dem Machtverlust der Kurden-Partei HDP hätten dieses Mal jedoch auch viele Kurden im Südosten des Landes für Erdogan gestimmt. Es stelle sich daher die Frage, ob nicht die (enttäuschten) Konservativen – und weniger die Kurden – die Hoffnung für die Demokratie in der Türkei darstellen, schreibt Yinanc.
Wobei die nicht unwichtige Frage bleibe, weshalb besonders Anhänger der MHP zum "Nein"-Lager übergelaufen seien. Auch hierzu fehlen noch Umfragen. Für künftige Wahlen sei es aber entscheidend, die Motivlage dieser Wähler zu kennen.
Weitere Pressestimmen internationaler Medien
"The Guardian" (England)
"Es ist keine Übertreibung, wenn man sagt, dass die Türkei aufgrund des Referendums vom Sonntag, bei dem mit knapper Mehrheit tiefgreifende Verfassungsänderungen bestätigt wurden, die Präsident Recep Tayyip Erdogan beispiellos weitreichende Macht geben, in ein erschreckendes und unvorhersehbares neues Kapitel ihrer politischen Geschichte eingetreten ist.
Mit der Umsetzung dieser Reformen wird die Türkei fast in ein Sultanat verwandelt - nahezu 100 Jahre, nachdem Atatürk auf den Ruinen des Osmanischen Reichs die türkische Republik gründete. Für Europa und für die westlichen Verbündeten der Türkei in der NATO dürfte diese Transformation bedeutende Folgen haben. Die ohnehin schon angespannten Beziehungen werden sich weiter verschlechtern. Und das zu einer Zeit, da die Kooperation der Türkei in der Flüchtlingsfrage besonders wichtig ist."
"La Repubblica" (Italien)
"Das Ergebnis des türkischen Referendums steht auf der Kippe zwischen offiziellem Erfolg und einem politischen Affront. Überzeugt davon, dass er genügend Charisma und Popularität hat, hatte sich Recep Tayyip Erdogan mehr erhofft. Er zählte auf einen vollen Konsens bei der Volksabstimmung, nun erhält er diesen allerdings nur durch eine Handvoll Stimmen (...).
Das Ergebnis von Sonntag lässt uns eine Türkei wiederentdecken, die alles andere als von Erdogan komplett unterworfen oder verführt wurde. Eine Gesellschaft ist wieder aufgeblüht, die zum Teil angezogen wird von einem nationalistischen Autoritarismus, von einem stark religiösen Konzept, (...) gleichzeitig aber zum Teil erobert worden ist vom westlichen Liberalismus.
Das unerwartete Ergebnis von Sonntag hat uns gezeigt, dass dieses große Land resistent ist gegen die Verrücktheiten seines Anführers. Nach dem Urnengang sollte Erdogan nun einen 'respektvollen Dialog' mit allen politischen Kräften führen. Er sollte vor allem besonnener werden."
"Le Monde" (Frankreich)
"Man wird sagen, dass das Land in jüngster Vergangenheit zahlreiche Traumata durchlebt hat: der schreckliche, endlose Krieg im Nachbarland Syrien und der Flüchtlingsstrom in die Türkei; eine Anschlagswelle, verübt von lokalen Zellen der Organisation Islamischer Staat; der Krieg mit den eigenen Kurden; der versuchte Militärputsch im Juli 2016. All das ist wahr. (...)
Aber wegen seiner Abenteuerlust in Syrien, wo er mit dem radikalen Islamismus gespielt hat, wegen der unverhältnismäßigen Repression, die er im Sommer 2016 in Gang gesetzt hat, wegen seines Strebens, die Presse und den gesamten Staat zu unterwerfen, ist Herr Erdogan in großem Maße für das Unglück seines Landes verantwortlich. Dieser völlig kritikunfähige Mann, der bereit ist, seine europäischen Kollegen zu beleidigen und eine 'Weltverschwörung' anzuprangern, ist jetzt mit für ihn maßgeschneiderter Macht ausgestattet. Das ist nicht gut, weder für die Türkei noch für Europa."
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