Wie Ägypten nach dem "Arabischen Frühling" stabil blieb - und dennoch verarmte
Zehn Jahre nach der Machtübernahme al-Sisis und der blutigen Protestniederschlagung mit 1.000 Toten geht es der Bevölkerung heute teils schlechter als unter Langzeitdiktator Mubarak.
Hussein Baoumiweiß noch ganz genau, wo er am 14. August 2013 gewesen ist, als Chaos über die Straßen Kairos hereinbrach: "Ich bin früh aufgewacht, weil schon seit Tagen befürchtet wurde, dass so etwas passieren könnte. Auf den Straßen hörte man Schüsse, überall waren Polizisten, blutende Menschen. Ich erinnere mich an die Angst in ihren Augen."
In Ägypten selbst ist es verboten, dieser Tage ein Wort über das historische Blutbad zu verlieren. Der Ägypter Hussein Baoumi, Experte für Nordafrika und den Mittleren Osten bei Amnesty International, lebt seit Jahren in Brüssel. In seinem Heimatland fürchtet er, wie unzählige andere Menschenrechtsaktivisten und Regimekritiker, Gefängnis und Folter.
Zehn Jahre ist es her, dass der damalige Verteidigungsminister und General Abdel Fattah al-Sisi den ersten demokratisch gewählten, aber nicht gerade demokratisch regierenden Präsidenten Mohammed Mursi der islamistischen Muslimbruderschaft geputscht und sich an dessen Stelle gesetzt hat.
Am 14. August 2013 beendete er die Proteste der Anhänger der Muslimbruderschaft mit einem Blutbad, das rund 1.000 Menschenleben kostete. Rückblickend wirkt es wie ein Vorgeschmack auf sein Regime, das heute Kritikern zufolge autoritärer ist als es selbst unter Langzeitdiktator Husni Mubarak gewesen war.
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Dabei galt al-Sisi, meist mit charakteristischer schwarzer Sonnenbrille in der Öffentlichkeit auftretend, vielen Ägyptern als Retter und Visionär für ein modernes Ägypten. International genießt er nach wie vor vor allem den Ruf als Garant für Stabilität.
Während der "Arabische Frühling" in einigen Ländern des Nahen Ostens zu fatalen Bürgerkriegen geführt hatte und Terrorgruppen ganze Städte unter ihre Kontrolle bringen konnten, blieb es in Ägypten – bis auf Teile der Halbinsel Sinai – weitestgehend stabil.
Auch die Infrastruktur des Landes sowie die Digitalisierung brachte al-Sisi voran. Die Staus am Autobahnring um die Hauptstadt Kairo werden weniger – obwohl die Bevölkerung pro Jahr um drei Millionen Menschen wächst.
Doch der Preis dafür ist hoch. "Al-Sisi war mit drei Versprechen angetreten: Sicherheit, einem Ende der Stromknappheit – ein großes Problem unter Mubarak – und wirtschaftlichem Wohlstand. Keines davon hat er gehalten", so Baoumi zum KURIER.
Die NGO Freedom House, die Freiheit und Demokratie weltweit misst, bewertet das Land auf einer Skala mit 18 von 100 Punkten als "nicht frei". Mehr als 65.000 politische Gefangene, Journalisten und Regimekritiker sitzen in Haft. Reporter ohne Grenzen sieht Ägypten in der Pressefreiheit auf Platz 166 von 180 Ländern – hinter Russland und Afghanistan. Noch mehr als die Repressionen der Regierung sorgt die Menschen aber die wirtschaftliche Lage.
Ein Drittel der 105 Millionen Ägypter lebt offiziellen Zahlen zufolge unterhalb der Armutsgrenze – die Dunkelziffer dürfte viel höher sein. Im Juni lag die Inflationsrate bei 36,8 Prozent. Dafür ist auch der Krieg in der Ukraine verantwortlich: Ägypten ist der weltweit größte Getreideimporteur, vorwiegend aus Russland und der Ukraine. Weil die Preise für Tierfutter wegen des Krieges um 400 Prozent gestiegen sind, ist Fleisch heute doppelt so teuer wie vor einem Jahr. Die Regierung sorgte für Empörung, als sie empfahl, die Bevölkerung solle doch Hühnerfüße anstelle des unerschwinglichen Hühnerfleischs essen.
Künftig dürfte auch wieder die Stromversorgung eingeschränkt werden, um einer Stromknappheit entgegenzuwirken – allerdings nur in den ärmsten Gebieten des Landes, um den Strom in den wohlhabenden Regionen am Laufen zu halten. "Die Kluft zwischen Lebensrealitäten war noch nie so groß wie heute", so Baoumi. "Ein sehr kleiner, dem Militär und Regime nahe stehender Teil, wurde reicher, die große Mehrheit aber ärmer."
Nach dem "Arabischen Frühling" und der Absetzung des Diktators Hosni Mubarak 2011 errichtete der erste demokratisch gewählte Präsident Ägyptens, Mohammed Mursi von der islamistischen Muslimbruderschaft, ein religiös angehauchtes System. Er wurde am 3. Juli 2013 vom Militär unter der Führung von Abdel Fattah al-Sisi weggeputscht. Die folgenden Proteste der Mursi-Anhänger beendete al-Sisi am 14. August 2013 mit einem Massaker, 1.000 Menschen starben. Heute sollen mehr als 65.000 politische Gefangene in Haft sitzen.
Hochhäuser in der Wüste
Die milliardenschweren Finanzspritzen, die die Regierung von internationalen Geldgebern erhält, gibt sie für umstrittene Bauprojekte aus – wie die Erweiterung des Suezkanals oder den Bau einer neuen Hauptstadt, mitten in der Wüste und etwa 50 Kilometer von Kairo entfernt. Der 77 Stockwerke hohe Iconic Tower dort, der 400 Meter hoch werden soll, ist bereits das höchste Gebäude des Kontinents. 2036 will Ägypten hier als erstes afrikanisches Land die Olympischen Spiele ausrichten.
2024 stehen "Wahlen" in Ägypten an. Al-Sisi ermutigt sogar die Oppositionsparteien, gegen ihn zu kandidieren – die haben aber nicht den Hauch einer Chance. "Die Oppositionsparteien dienen nur zum Aufrechterhalten des Scheins, sie haben keinen Zugang zu den Medien, die unter staatlicher Kontrolle stehen; die Regierung sagt ihnen, was sie kritisieren dürfen und was nicht", so Baoumi.
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