"Berufung in der neuen Heimat gefunden"

türkei, syrien, flüchtlinge
Die Kriegsfolgen in Syrien nehmen biblische Ausmaße an: Fast zehn Millionen Menschen wurden vertrieben, also jeder Zweite, global sind es mehr als 50 Millionen. Bei all dem Schatten gibt es aber auch Licht – in Österreich.

Verschanzt hinter zwei Meter hohen Wällen aus Sandsäcken halten die drei türkischen Soldaten die Stellung. Nervös und mit Gewehren im Anschlag kommen sie uns entgegen, als wir uns dem Grenzübergang nähern. Hier weht die roten Fahne mit dem Halbmond, nur einen Steinwurf entfernt die zerschlissene syrische. Sie steht für ein Land, das längst in seine Teile zerfallen ist. Kontrolliert wird das Gebiet hier von der Miliz der syrischen Kurdenpartei PYD.

Eigentlich ist dieser Posten zwischen den Ortschaften Senyurt (türkisch) und Derbasij (syrisch) geschlossen, doch die lokale Bevölkerung darf mit Sondergenehmigung der Behörden in der 40 km entfernten Provinzhauptstadt Mardin passieren. Ein paar können wir auf syrischer Seite ausmachen, drei Männer sind es auf der türkischen. Das Trio versucht, sich mit einem Energydrink namens "Just Power" über die Wartezeit zu bringen. Diese kann zwischen ein paar Stunden und ein paar Tage dauern, heißt es.

Shiar hat sich mit seiner Frau und den drei Kindern schon vor eineinhalb Jahren vor dem Bürgerkrieg in Sicherheit gebracht und ist in diesem gottverlassenen Grenzort gestrandet. "Wir waren zuerst in einem Flüchtlingslager, doch dann ist mein Sohn an Meningitis erkrankt", erzählt der frühere Fleischhauer, "wir haben das Camp verlassen, Halet wurde in Diyarbakir behandelt, aber schlecht." Die Familie habe daher ihre Zelte erneut abgebrochen und sei nach Senyurt gegangen, weil sie hier Verwandte habe.

Tagelöhner

Seither nimmt er ein Mal im Monat die Grenz-Prozedur in Kauf, um – so absurd das klingen mag – für seinen Dreijährigen Medizin in Syrien zu besorgen. "Halet spricht auf diese besser an", so Shiar. Das Geld dafür und um die Alltagskosten abdecken zu können erarbeitet sich der 36-Jährige als Tagelöhner auf dem Bau oder in der Landwirtschaft. 20 Lira erhält er dafür pro Tag, nicht einmal sieben Euro.

"Berufung in der neuen Heimat gefunden"
Ins Flüchtlingscamp zurückkehren, wo zumindest die materiellen Belange abgedeckt sind, möchte er dennoch nicht mehr. So wie dieser Mann denken viele Geflüchtete. Weswegen die EU ein Programm gestartet hat für Vertriebene, die in Städten oder Dörfern gelandet sind (siehe unten). Das sind vermutlich 800.000 in der Türkei. Vor allem die geflohenen syrischen Kurden vermeiden es, sich in türkische Lager zu begeben.

"Es ist grausam, diese Familien zu sehen. Sie kommen nur mit dem Allernötigsten. Und dann stehen sie auf der Straße", sagt Nadire Demircan, die mit ihrem Mann und den beiden Kindern in Senyurt ein kleines Haus hat. Die 32-Jährige konnte nicht wegschauen, sie packte eine vierköpfige Familie und nahm sie in ihrem Heim auf. Im Vorzimmer wurde eine Pressspanplatte aufgestellt und eine notdürftige Türe hineingeschnitten – damit beide Familien zumindest eine kleine Privatsphäre haben und beide auch das Klo benutzen können. "Was soll ich tun, ich bin Krankenschwester, ich muss doch helfen", sagt sie und streicht dem "neuen" Kind über den Kopf.

Schauplatzwechsel: Das Flüchtlingslager bei Midyat. Hinter einem Stacheldrahtzaun reiht sich hier auf dem steinigen und sandigen Boden ein Zelt an das andere. Unerbittlich brennt jetzt im Sommer die Sonne herab und lässt die Temperaturen in den Behelfsbehausungen bisweilen auf 40 Grad steigen. Ventilatoren verschaffen da nur wenig Linderung.

Ansonsten ist das Camp (fast 3000 Flüchtlinge) gut ausgestattet. In einem Supermarkt können sich die Familien mit Lebensmitteln und Hygieneartikeln eindecken – die staatliche Zuwendung dafür beträgt pro Person und Monat 85 Lira (30 Euro). Auf dem 336.000 großen Areal, das 6500 Menschen Platz böte, finden sich zudem drei Schulen, eine Krankenstation sowie eine Moschee.

Handy-Verbot im Lager

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Dennoch zeigen sich einige frustriert. "Wir dürfen keine Handys mit Kamera-Funktion haben", klagt Basam Meghlaj, "aber es gibt doch keine anderen mehr. Und so können wir mit unseren Verwandten in der Heimat nicht in Kontakt treten." Auch die restriktive "Ausgangsregelung", wie der 36-Jährige formuliert, kritisierten viel. "Ein Mal pro Woche dürfen wir raus. Das hilft, den Lager-Stress ein wenig abzubauen, aber vor allem arbeiten wir dann, denn für Kleidung oder Zigaretten reicht das Geld, das wir erhalten, bei Weitem nicht. Wer allerdings zu spät kommt, muss nächste Woche im Camp bleiben."

Inständig hofft der Mann, dass in Syrien so bald wie möglich die Waffen schweigen, "damit wir endlich wieder nach Hause können".

"Die staatlichen Flüchtlingscamps in der Türkei sind gut organisiert (220.00 sind dort untergebracht)", lobt Jean-Christophe Pegon, "aber es gibt kein System für die Leute in den Städten und Dörfern", so der Türkei-Verantwortliche von ECHO. Diese EU-Organisation ist für die Hilfe außerhalb der Union zuständig. Um auch diesen Menschen (in der gesamten Türkei sind es geschätzte 800.000) Unterstützung zuteil werden zu lassen, wurde in der Region Mardin ein EU-Pilotprojekt gestartet.

"Wir wollen die Ärmsten der Armen erreichen, zunächst 8500 Menschen", erläutert Antonius van Zutphen von der deutschen Welthungerhilfe, die gemeinsam mit einer türkischen NGO das Volumen von einer Million Euro abwickelt. Der Ansatz: Jeder Bedürftige erhält pro Monat rund 14 Euro bar auf die Hand. "Bei einer fünfköpfigen Familie macht das zusätzlich 70 Euro pro Monat aus. Das kann sie tatsächlich über die Runden bringen." Das Projekt, das ständig von Experten überwacht wird, soll noch im Juni starten. Insgesamt hat ECHO für die Flüchtlingshilfe in der Türkei 21 Millionen Euro zur Verfügung gestellt.

Ali Asghari, 20, Afghanistan

"Berufung in der neuen Heimat gefunden"
"Österreich ist meine dritte Heimat", sagt Ali, der als Zehnjähriger mit seinem Bruder vor den Taliban hierher geflohen ist. Seine Eltern hat er seither nie wieder gesehen. Sie leben vermutlich nicht mehr. Eines Tages will er zurück nach Afghanistan und das Land beim Wiederaufbau eines demokratischen Systems unterstützen, "das auf Freiheit und Gleichheit aufbaut". Dafür studiert er hier inzwischen Rechts- und Politikwissenschaften.

Freiheit und Gleichheit sind auch die Dinge, die Ali am meisten an Österreich schätzt. "Hier hat jeder die gleichen Chancen." In Afghanistan war er noch zu jung, um zu verstehen, warum die Taliban sein Dorf einkreisten – ein Onkel brachte ihn und seinen Bruder in den Iran, seine zweite Heimat. "Willkommen war ich dort aber nie. Einwanderer werden dort als Abschaum des Staates bezeichnet."

"Leiwand" wurde es für ihn erst, als er nach Österreich kam. Sein ältester Bruder war bereits hier und beantragte eine Familienzusammenführung – Ali konnte somit legal nach Österreich kommen. Seinen ersten Kulturschock erlebte er, als seine Anwältin ihm die Hand geben wollte. "Das kannte ich bisher nicht von Frauen, ich war sehr unsicher. Und Lederhosen werde ich auch nie verstehen."

Eine Woche nach seiner Ankunft saß Ali schon als einziger Flüchtling ohne Deutschkenntnisse in einer Hauptschulklasse in Simmering. "Die ersten Jahre waren schwierig. Ich konnte noch kein Deutsch, wurde von den anderen Schülern gemobbt und konnte mich nicht verteidigen." Geändert hat sich das erst, als im nächsten Jahr ein neuer Flüchtling dazukam. Da ihn kein Lehrberuf angesprochen hat, entschied er sich für das Studium. "Vielleicht werde ich ja Asylrichter. Da gibt es in Österreich einige offene Baustellen."

Zum Abschied reicht er der KURIER-Redakteurin beide Hände.

Umyma Eljelede, 42, Sudan

"Berufung in der neuen Heimat gefunden"
"Ich habe hier in meiner neuen Heimat eine Berufung gefunden", erzählt Umyma, die vor zehn Jahren mithilfe von Schleppern nach Österreich gefunden hat. Heute berät die ausgebildete Chirurgin afrikanische und arabische Frauen, die hier leben, zu genitaler Beschneidung – allein in Wien sind rund 1900 Frauen davon betroffen oder bedroht. Für ihre Arbeit erhielt Umyma erst kürzlich den MIA-Award für humanitäres Engagement.

Wegen der politischen Situation im Sudan und aus Angst vor einer Inhaftierung oder Schlimmeren floh sie 2003 mit ihrer Mutter in die Türkei – von dort brachten Schlepper die beiden mit dem Auto nach Wien und setzten sie vor dem Asylamt ab. "Wir wussten nicht, was passiert, und hatten so viel Angst vor der Polizei und vor Uniformen. Aber ich musste für meine Mutter stark sein."

Vom Asylamt schickte man Mutter und Tochter zur Caritas: "Es war alles so neu – an diesem Tag bin ich zum ersten Mal mit der U-Bahn gefahren. Alles war fremd, dieser ganze Verkehr, wir kannten das alles nicht." So verunsichert sie bei ihrer Ankunft war, so dankbar war Umyma auch für die Unterstützung, die sie erhielt. "Es war sauber, wir bekamen ein Bett und Hygieneartikel. Am Anfang war für uns das Gefühl von Sicherheit oberste Priorität."

Arbeiten durfte die Chirurgin, die selbst Nachwuchsärzte ausgebildet hat, lange Zeit nicht. "Unsere Papiere waren auf Arabisch, man existiert praktisch nicht." Mit 75 Euro Taschengeld pro Woche kamen Mutter und Tochter anfangs gut aus – doch davon mussten sie auch essenzielle Dinge wie die Jahreskarte für die Öffis ("Unsere einzige Möglichkeit unsere neue Umwelt kennenzulernen") oder den Deutschkurs selbst bezahlen. Umymas Ziel war lange ihre Anerkennung als Ärztin in Österreich – "inzwischen ist meine Arbeit gegen Genitalverstümmelung aber wichtiger geworden."

Manochehr Shahabi, 50, Iran

"Ich lebe hier, aber ich fühle mich nicht zu Hause", sagt Manochehr, der seine Heimat vor 27 Jahren verlassen musste, weil sein Leben aufgrund seiner politischen Überzeugung in Gefahr war. In Österreich studierte er Pharmazie, arbeitete in der Krebsforschung. Außerdem studierte er Malerei und verarbeitete seine traumatischen Erlebnisse in Bildern.

"Berufung in der neuen Heimat gefunden"
Als 14-Jähriger erlebte Manochehr den Sturz des Schahs – wenig später begann das neue Regime Andersdenkende zu verfolgen. Im Alter von 19 Jahren landete er für drei Jahre im Gefängnis, weil er sich an linken Gruppen beteiligte, die sich für Freiheit und Demokratie einsetzten. Tausende wurden damals hingerichtet – auch viele seiner Weggefährten. "Jeder Tag ist vom Druck bestimmt, ob man überlebt oder nicht."

Mit seinen Bildern hält er diese Erlebnisse am Leben. "Es ist lange her, aber es ist für mich wie gestern. Man versucht diese Zeit belebt zu halten, damit sie nicht vergessen wird." Eine Aufarbeitung sei unter der jetzigen Regierung nicht möglich. Akribisch hat Manochehr deshalb all die Namen seiner getöteten Mitstreiter in seinen Bildern verewigt. "Bei Ausstellungen haben Iraner, die Familie und Freunde verloren haben, diese Namen auf meinen Bildern entdeckt und wollten sie einfach nur berühren."

Seine wissenschaftliche Karriere hat er inzwischen aufgegeben, um sich ganz dem Völkerverständnis und der Unterstützung von Migranten zu widmen. Bei Workshops in Schulen sind Jugendliche erstaunt über Erzählungen, wie er in ihrem Alter sein Leben für seine Überzeugungen riskiert hat.

"Im Iran kann man für ein Flugblatt ins Gefängnis gesteckt werden – hier kann ich frei und kritisch sein." Das zeigte er auch unter der schwarz-blauen Regierung, als er für die Donnerstags-Demos einen überdimensionalen trojanischen Esel fertigte.

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