Was Putin neben Stalin in einer Monumentalkathedrale verloren hat
Der 9. Mai hätte sein Tag werden sollen. Tausende Soldaten am Roten Platz, donnernde Panzer, wehende Fahnen. Ein erhebendes Gefühl des Sieges, der nationalen Einheit, der Überlegenheit; Wladimir Putin mittendrin, umringt von westlichen Politikern wie Emmanuel Macron.
So hatte sich der Präsident den wichtigsten weltlichen Feiertag seines Landes vorgestellt, den Tag des Sieges über Nazideutschland.
Gekommen ist es anders. Der Rote Platz bleibt leer; die Soldaten, die seit Wochen dafür trainiert hatten, sind allesamt in Quarantäne. Das Coronavirus hat dem Präsidenten einen Strich durch die Rechnung gemacht, und es ist der zweite binnen Kurzem: Schon im April musste Putin zähneknirschend das Referendum über seine Amtsverlängerung verschieben. Wann die für ihn so wichtige Befragung, mit der er bis 2036 im Amt bleiben will, stattfindet, ist völlig ungewiss.
Doppelte Niederlage
Putin hat es derzeit so schwer wie nie: Seine Umfragewerte fallen, die Russen nehmen ihn nicht als den Krisenmanager wahr, der er früher war (siehe Infobox unten).
Dass jetzt auch das dritte Mammutprojekt wegbricht, mit dem Putin sein Image aufpolieren wollte, ist für ihn doppelt bitter: Die monumentale, 75 Millionen Euro teure Kathedrale, die Putin zum 75. Jahrestag des Sieges über Nazideutschland den Streitkräften widmen wollte, kann wegen der Pandemie nicht nur nicht eröffnet werden – sie wird auch anders aussehen. Nach vehementen Debatten in den Medien wird ein Mosaik, auf dem Putin selbst gehuldigt worden wäre, nicht angebracht.
Ist Putin so angeschlagen? Er kommentierte das Ganze zwar gewohnt nonchalant, „eines Tages werden kommende Generationen dankbar für unserer Errungenschaften sein, aber es ist zu früh dafür“, ließ er mitteilen; das Mosaik bleibt immerhin als Artefakt erhalten. Aber ein derartiger Rückzieher ist für den Kreml dann doch etwas ungewohnt.
Das Spiel mit der Geschichte
Freilich, man kann den Rückzieher auch als taktisches Manöver sehen. Denn das zentrale Motiv des Mosaiks blieb: Der Roten Armee wird gehuldigt – mitsamt einem Porträt Stalins.
Ein Diktator in einer Kirche? Was im Westen paradox erscheint, ist in Russland nur folgerichtig. Seit etwa fünf Jahren setzt der Kreml alles daran, das Bild Stalins zu rehabilitieren, die orthodoxe Kirche spielt da mit. „Stalin wird in Russland hauptsächlich als jene Person gesehen, die für den Sieg im Zweiten Weltkrieg und für den wirtschaftlichen Aufschwung und die Industrialisierung vor dem Krieg verantwortlich ist“, sagt Felix Krawatzek, Politologe am Berliner Zentrum für Osteuropa und internationale Studien. „Die Gewalt, die Gulags, die Exzesse der Roten Armee sind einfach nicht Teil des öffentlichen Diskurses.“
Putin nützt das für sein Image. „So lässt sich der starke Staat, die starke Hand Putins rechtfertigen. Man kann daraus sogar eine geschichtliche Mission ableiten.“ Dazu tritt man – wie damals – geeint gegen einen Außenfeind auf: Was früher die Nazis waren, ist heute der verderbte Westen. Nicht umsonst war auf dem Putin-Mosaik ein Banner zu sehen, auf dem „unsere Krim“ stand.
Kriegslieder im Kindergarten
Hinter diesem Narrativ steht eine Propagandamaschinerie, die nicht nur gegen Andersdenkende vorgeht – Kritik an der Roten Armee steht seit Kurzem unter Strafe –, sondern bereits bei den Kleinsten beginnt. „Schon in Kindergärten werden martialische Lieder gesungen, die die ,historische Mission’ Russlands beschwören“, sagt Krawatzek. In der Schule wird auf staatliche Anordnung hin mehr über die Industrialisierung Stalins als über die Millionen Verschleppten und Toten gelehrt; und in Themenparks – wie jenem, wo die Putin-Kathedrale steht – können Jugendliche die Schlachten der Roten Armee nachstellen.
Das wirkt: Mehr als 40 Prozent der Jugendlichen, die Krawatzek und seine Kollegin Nina Frieß für eine Studie befragten, meinen, Stalin „habe zwar Fehler gemacht, aber dem Land mehr gebracht als Schaden zugefügt. Elf Prozent sehen in ihm einen „weisen Führer“. In einer Umfrage des Lewada-Instituts ist Stalin die einflussreichste Person der Geschichte – vor Putin. 2008 war das noch Nationalschriftsteller Puschkin.
In Stalins Schatten
Freilich, nicht alle Russen finden die Geschichts-Neuschreibung gut. Da sei auch „viel Wunschdenken des Kreml“ dabei, sagt Krawatzek – vor allem derzeit, in der Coronakrise.
Der Schatten Stalins wirkt nämlich angesichts des eher mauen Krisenmanagements des Präsidenten noch übermächtiger. Ob Putin das seine gewünschte Amtsverlängerung, wenn nicht gar sein Amt kosten wird? Man wird sehen: „Ob das bereits die Nagelprobe für ihn ist, ist noch nicht abschätzbar. Aber es ist jedenfalls eine sehr kritische Situation.“
Vom Macherimage keine Spur. Es war ein Nebensatz, aber ein höchst bedeutsamer: Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin gab kürzlich zu, dass die Hälfte aller Covid-19-Patienten auf den Intensivstationen negativ auf Coronavirus getestet worden seien – obwohl sie die Krankheit eindeutig hätten.
Das ist nicht nur ein Beleg dafür, wie schlecht die Testqualität im Riesenstaat ist, sondern auch ein Hinweis darauf, dass die Dunkelziffern extrem hoch sein müssen – und das, obwohl die offiziellen Statistiken höchst beunruhigend sind: 124.000 Erkrankte und 1200 Tote zählt Russland trotz mehrwöchigen Lockdowns, die Kurve steigt nach wie vor.
Kratzer an Glaubwürdigkeit
Das Eingeständnis bringt Putin noch mehr unter Druck, als er schon ist. „Seine Umfragewerte liegen unter dem Niveau von 2012, als es die großen Proteste gegen ihn gab“, sagt Politologe Krawatzek. Sogar das zurückhaltende, staatlich geförderte Umfrageinstitut WZIOM gab bekannt, dass seine Beliebtheit auf ein 14-Jahres-Tief gefallen sei.
Putins Taktik, die Verantwortung in der Coronakrise an die Gouverneure abzugeben, geht also nicht auf – letztlich fällt alles Versagen auf ihn zurück. „Der Frust der Bevölkerung ist groß, auch wegen des Ölpreises und der schlechter werdenden wirtschaftlichen Situation. Putin macht der Bevölkerung aber kein Angebot, Worte reichen da nicht“, sagt Krawatzek. Dazu kommt, dass die „Bevölkerung sich nicht an die Regeln hält.“ Und wenn in einem autoritären System Regeln nicht eingehalten würden, sei das für die Machthaber das Schlimmste, – „sie verlieren an Glaubwürdigkeit.“
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