Was passiert, wenn das US-Höchstgericht das Recht auf Abtreibung kippt?
Es ist die älteste und am meisten verhärtete Front im unheilbaren Werte-Krieg, der die Vereinigten Staaten von Amerika spaltet: die Frage, wie viel Autonomie Frauen über ihren Körper haben sollen. Ob sie eine Schwangerschaft in den ersten Monaten legal und in medizinisch sicherem Umfeld abbrechen dürfen – oder eben nicht.
Abtreibung in den USA: Gegener und Befürworter demonstrieren vor Supreme Court
Fast ein halbes Jahrhundert haben Frauen in den USA ein durch höchstrichterliche Entscheidung, nicht durch ein parlamentarisches Gesetz zustande gekommenes Recht darauf. Ebenso lange haben Abtreibungsgegner, angetrieben dort allem durch den Religionseifer evangelikaler Fundamentalisten, versucht, es ihnen wegzunehmen.
Und wenn nicht alles täuscht, werden sie nach dem juristischen Erdbeben, das sich am Montagabend in Washington ereignet hat, damit in diesem Sommer Erfolg haben. Das Magazin Politico wurde Nutznießer einer historischen Indiskretion in Form eines 100-seitigen Entwurfs für eine bis Anfang Juli erwartete Entscheidung des Obersten Gerichtshofs. Sollte sich die von Donald Trump herbeigeführte konservative 6:3-Mehrheit am „Supreme Court“ nicht in letzter Minute davon distanzieren, wird das 1973 an gleicher Stelle ergangene Grundsatzurteil „Roe versus Wade“ gekippt. Frauen verlören dann auf Bundesebene generell die Selbstbestimmung über ihren Körper. Bisher legale Schwangerschaftsabbrüche bis zur Lebensfähigkeit des Fötus (22. bis 24. Woche) würden illegal. Näheres regeln die Bundesstaaten. Je nach politischem Belieben.
„Kettenreaktion“
Käme es so, würde „eine gesellschaftlich unheilvolle Kettenreaktion“ einsetzen, die einen Flickenteppich schaffte – so jedenfalls sehen es US-Medien. Etwa die Hälfte der Bundesstaaten, im konservativen Süden und Mittleren Westen, würde Abtreibung rigide erschweren bis ganz verbieten (oder hat dies bereits getan) – selbst bei Inzest oder Vergewaltigung. Der liberale Teil an der West- wie Ostküste würde das Recht auf Schwangerschaftsabbruch durch regional begrenzte Gesetze befestigen.
Kenner des Themas prophezeien einen „Abtreibungstourismus“ zumindest jener Menschen, die es sich leisten können. Kliniken in demokratischen Hochburgen wie Kalifornien würden so überrannt werden. Sozial schwache Frauen und Afroamerikanerinnen, die das Gros der Abtreibenden stellen, liefen dagegen Gefahr, „Engelmachern“ in die Hände zu fallen. Und das vor dem Hintergrund, dass landesweit konstant mehr als 60 Prozent der Amerikaner in seriösen Umfragen das geltende Abtreibungsrecht unangetastet sehen wollen.
Proteste beider Lager
Die Lage, das haben bereits die ersten wütenden Proteste beider Lager in der Nacht zum Dienstag vor dem Supreme Court gezeigt, erinnert an Kerosin, das in ein offenes Feuer geschüttet wird. Wer sich dabei im November bei den Wahlen Hände und Reputation verbrennen wird, ist offen.
Für die Republikaner, die seit Jahrzehnten gegen Abtreibung wettern, wäre die Revision von „Roe versus Wade“ ein historischer Triumph. Sie könnte Lust auf mehr machen, etwa die Abschaffung der gleichgeschlechtlichen Ehe, und die Chancen auf eine Rückkehr Trumps 2024 erhöhen. Gleichzeitig erhielten die in Umfragen demolierten Demokraten ein scharfes Schwert im Kultur-Krieg. Sich von reaktionär empfundenen Republikanern schwer erkämpfte Frauenrechte abspenstig machen zu lassen, berührt das Selbstverständnis von Millionen. Gebildete, moderate Wähler und Wählerinnen aus den zunehmend wahlentscheidenden Vorstädten der Metropolen könnte die sich anbahnende Zeitenwende in Scharen an die Wahlurnen treiben, knappe demokratische Mehrheiten im Parlament konsolidieren und so die angeschlagene Präsidentschaft Joe Bidens sogar retten.
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