Warum uns die Konflikte vor der Haustüre nicht egal sein sollten
Im Nahen und Mittleren Osten jagt eine Krise die andere, die USA und der Iran messen ihre Kräfte; Milizen destabilisieren ganze Staaten, in Syrien tobt nach wie vor ein Bürgerkrieg. Entwicklungen, deren Auswirkungen auch Österreich treffen können: Die "Sicherheitspolitische Jahresvorschau 2020" von der Direktion für Sicherheitspolitik stuft eine "Konfliktverschärfung in der Golfregion" als Ereignis mit einer relativ hohen Wahrscheinlichkeit und einer relativ hohen "Auswirkung auf die Sicherheit Österreichs" ein.
Aus folgenden Gründen: "Im Iran halten sich derzeit drei Millionen afghanische Flüchtlinge auf. Und das, obwohl 30 bis 40 Prozent der auswanderungswilligen Afghanen an der Grenze zum Iran abgewiesen werden", sagt Generalmajor Johann Frank, Leiter der Direktion. Sollte es zu einer stärkeren Destabilisierung im Iran kommen, würde der Migrationsdruck in Richtung Europa massiv ansteigen.
Vor allem, da bereits jetzt vier Millionen Flüchtlinge in der Türkei ausharren und sich ihre Situation dort immer mehr verschlechtert. Die derzeitige Offensive der Assad-Truppen, die mit russischer Unterstützung große Teile der Region Idlib einnehmen konnten, hat bisher 500.000 weitere Flüchtlinge in Richtung Türkei verursacht. Im vergangenen Jahr sind in Griechenland rund 60.000 Migranten aus der Türkei angekommen – ein Anstieg von 83 Prozent gegenüber dem Jahr 2018.
Florence Gaub, Vize-Direktorin des European Union Institute for Security Studies, rechnet jedoch nicht damit, dass es heuer zu einer weiteren starken Flüchtlingsbewegung kommt: "Der Grund hierfür ist, dass solche Wellen die Konsequenz mehrerer Eskalationsstufen sind, insgesamt sind diese für 2020 aber nicht zu erwarten", schreibt sie in der Jahresvorschau des Verteidigungsministeriums. Angestiegen ist kurz nach der Ermordung des iranischen Generals Qassem Soleimani Anfang Jänner auch der Ölpreis – mittlerweile ist er auf Talfahrt.
Immer wieder droht der Iran damit, die wichtige Straße von Hormus zu schließen. 20 Prozent des weltweiten Energiehandels passieren diese Meerenge. Im Falle einer handfesten Eskalation hätte dies Auswirkungen auf die Energiepreise. Allerdings bezieht Österreich sein Öl und Gas aus anderen Ländern, wäre demnach eher von einer Öl-Krise verschont.
Neue Terrorwelle
Der geplante Abzug der USA aus dem Mittleren Osten könnte laut Frank durch die Europäer nicht militärisch kompensiert werden. Dadurch entstünde ein Machtvakuum, das vor allem im Nordirak durch sunnitische Terrormilizen gefüllt werden dürfte. Bereits jetzt sammeln sich dschihadistische Kämpfer im Irak, Geheimdienste sprechen von einem Wiedererstarken des IS, es drohe eine neue Terrorwelle – auch in Europa.
Gaub erwartet, dass diese in der zweiten Jahreshälfte an Fahrt gewinnen wird, hauptsächlich aber im Raum des Nahen und Mittleren Ostens.
Auch in Nordafrika brodelt es gewaltig – nicht zuletzt wegen der Eskalation in Libyen. Die Berlin-Konferenz am 19. Jänner hat gezeigt, wie verworren der Konflikt zwischen der international anerkannten "Einheitsregierung" und dem libyschen General Haftar ist. Kurze Zeit nach dem Treffen brach die vereinbarte Waffenruhe.
Hier wurde die außenpolitische Zahnlosigkeit der EU deutlich: Neben diplomatischen Bemühungen, alle Vertreter an einen Tisch zu bringen, konnten europäische Länder nahezu keine Duftmarken setzen. Zumal Italien und Frankreich entgegengesetzte Positionen vertreten.
Österreichs Interessen in Libyen sind vor allem wirtschaftlicher Natur: 35.000 Fässer kann die OMV täglich dort fördern – das macht sieben Prozent ihrer Gesamtproduktion aus. Doch auch im Bereich der Migration ist Libyen nach wie vor ein Brennpunkt. Hunderttausende Migranten harren unter unmenschlichen Bedingungen in Lagern nahe der Mittelmeerküste aus, zumeist in den Händen von islamistischen Milizen, die die Einheitsregierung in Tripolis stützen.
Bundesheer in der Sahelzone
Es liegt im Interesse Europas, eine Lösung zu finden. Ein großer Teil der Migranten in Libyen kommt aus der Sahelzone, die seit Jahren von Milizen und Stämmen heimgesucht wird, die sich islamistischen Organisationen wie dem IS oder der El Kaida angeschlossen haben.
Hunderttausende fliehen nicht nur vor Krieg, sondern auch vor Perspektivenlosigkeit. In dieser Region versucht Europa seit geraumer Zeit, den Regierungen mit Militärmissionen unter die Arme zu greifen. Auch Österreich ist mit einem Kontingent in Mali vertreten.
Nichtsdestotrotz hat Europa für Gaub ein Legitimitätsproblem in seiner Außenpolitik: "Insgesamt bedeutet das, dass Europa seine außenpolitische Haltung zur Region überdenken müssen wird. Bekannte Methoden haben wenig Einfluss auf die Entwicklung der Konfliktlage gezeigt."
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