Warum sich in Venezuela auch nach der Parlamentswahl nichts ändern wird
Was wirklich zählt in Venezuela, steht auf dem Plakat mitten auf dem Markt in Ciudad Guayana: Reais, US-Dollar und Euro. Wer die brasilianische, amerikanische oder europäische Währung hat, kann Reis, Nudeln oder Kartoffeln kaufen. Doch die meisten Venezolaner haben keinen Zugang zu ausländischem Geld. Sie werden von der chronischen Hyperinflation, die das Land seit Jahren heimsucht, in eine fast aussichtslose Lage versetzt.
Ein Monatslohn reicht gerade einmal für eine Packung Eier. Der Rest ist Improvisation und Tauschhandel. Eigentlich wären die Parlamentswahlen am Sonntag der Schlüssel, um diese miserablen Zustände zu verändern.
Rotes Regime seit 1999
Eigentlich. Denn schon vor fünf Jahren wählten die Venezolaner die seit 1999 regierenden Sozialisten ab. Bei den Wahlen zur Nationalversammlung 2015 fuhr das konservative Oppositionsbündnis einen Erdrutschsieg ein. Das Volk zeigte der Partei von Präsident Nicolas Maduro die rote Karte. Doch der Staatschef ignorierte das Ergebnis, regierte mit Sonderdekreten am Parlament vorbei und hob später eine verfassungsgebende Versammlung aus der Taufe, die das Parlament entmachtete. Damit war der Wählerwille von 2015 endgültig ad absurdum geführt.
Millionen von Venezolanern, die feststellen mussten, dass ihre Stimme an der Urne nichts mehr zählt, egal wie sie abstimmen, sind seitdem geflohen. Vor Hunger, Perspektivlosigkeit und brutalen Sicherheitskräften.
Juan Guaidó, ab 2019 Präsident der Nationalversammlung und dann selbst ernannter, von 54 Staaten inklusive Österreich anerkannter (Gegen-)Präsident, war einige Monate die Hoffnung der Opposition – eine Hoffnung, die wie eine Seifenblase platzte. Nichts wurde aus dem Gegenputsch.
Abgesehen vom Maduro-Lager ist im Rest des Landes die Motivation, an dieser Wahl teilzunehmen, gleich Null. Die Umfrage-Institute sagen eine schwache Teilnahme voraus. Ein Großteil der zerstrittenen Opposition boykottiert die Wahlen, auch weil unabhängige internationale Wahlbeobachter fehlen. Die Bedingungen der EU für die Entsendung von Beobachtern akzeptierte Maduro nicht. Der hofft, dass er zumindest seine Basis an die Urnen bekommt, das würde wohl zum Wahlsieg reichen.
Sorge in Lateinamerika
Die Opposition setzt stattdessen auf eine „Consulta Popular“, eine Volksbefragung, die unter anderem eine freie, transparente Präsidentenwahl fordert. Doch die Begeisterung hierfür hält sich ebenfalls in Grenzen: „Es ist utopisch, zu denken, dass sich ein Land, in dem alle demokratischen Grundrechte ausgehebelt sind, durch eine Volksbefragung konsolidieren lässt. Wir hatten ja ein vom Volk gewähltes Parlament“, sagt der Wähler Gabriel Soto, 39, im Gespräch mit dem KURIER.
Der Rest Lateinamerikas schaut deshalb mit großer Sorge nach Venezuela. Die Flüchtlingskrise bedeutet für die Nachbarländer eine große humanitäre Herausforderung, die sie in Zeiten der Corona-Krise kaum zu meistern in der Lage sind. Wie dramatisch die Lage ist, zeigt eine jüngste Mitteilung des UN-Büros für humanitäre Angelegenheiten. Hier ist die Rede von der größten Bewegung von Flüchtlingen und Migranten in der jüngeren Geschichte des Kontinents. Die UN gehen davon aus, dass künftig bis zu sieben Millionen Venezolaner humanitäre Hilfe benötigen.
Massenexodus
Tatsächlich sind es die venezolanischen Migranten, die als erstes durch die sozialen Netze fallen. Rekordarbeitslosenzahlen in Ländern wie dem direkten Nachbarland Kolumbien infolge der Corona-Pandemie macht ihre Lage nur noch verzweifelter. Zwar kehren einige Tausend Venezolaner wieder in ihr Heimatland zurück, weil sie in anderen Ländern einfach keine Überlebenschance mehr sehen, dennoch hält der Massenexodus in die andere Richtung unvermindert an.
Inzwischen suchen die Menschen gefährliche Alternativen zu den wegen der Corona-Pandemie geschlossenen Grenzen und versuchen das Land über die vielen illegalen Grenzübergänge oder über das Meer zu verlassen. Für Venezuela bedeutet das einen Verlust von überwiegend jungen Arbeitskräften, die der Wirtschaft nicht mehr zur Verfügung stehen.
Schwere Vorwürfe
Auch deswegen stehen die Chancen für einen Neuanfang in Venezuela schlecht. Stattdessen ist es wahrscheinlicher, dass alles beim Alten bleibt – und Maduro trotz der schweren Vorwürfe der UN und Menschenrechtsorganisationen im Amt. Weitere Hunderttausende werden ihre Koffer packen. Für Länder wie Kolumbien, Ecuador oder Brasilien heißt das, noch größere Anstrengungen zu leisten, um die Vielzahl der Migranten aus dem Nachbarland zu integrieren.
Land und Leute
Das südamerikanische Land ist fast so groß wie Deutschland und Frankreich zusammen. Rund 32 Millionen Menschen lebten vor Ausbruch der Dauerkrise in Venezuela
Fünf Millionen Flüchtlinge
Wegen der wirtschaftlichen Misere und Arbeitslosigkeit haben mehr als fünf Millionen Venezolaner ihre Heimat verlassen – das ist fast jeder Sechste. Die meisten gingen in die Nachbarländer Kolumbien und Brasilien, aber auch nach Peru und Ecuador
Wirtschaftsdesaster
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) des an sich wegen der Ölvorkommen reichen Landes ging im Vorjahr um ein Drittel zurück im Vergleich zu 2018. Die Inflation schätzt der IWF auf unvorstellbare zehn Millionen Prozent (2019). Die Staatsverschuldung lag laut der Wirtschaftskammer Österreich im Vorjahr bei rund 230 Prozent des BIP
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