Kaum Überweisung in Spitäler
Ein Grund, warum so viele Senioren in Belgien an Covid-19 sterben, liegt aber auch daran, dass viele Erkrankte von den Heimen erst gar nicht in die Spitäler gebracht werden. Knapp mehr als die Hälfte der Intensivpflegebetten in Belgien sind noch frei, und sollen offenbar auch weiter frei gehalten werden für jüngere Menschen mit höheren Überlebenschancen.
Eine Empfehlung der nationalen Belgischen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie läuft darauf hinaus: Sie betrifft die schwächsten und kränklichsten Heimbewohner, bei denen offensichtlich sei, dass sie die Erkrankung nicht überleben würden. "In den Spitälern können wir ihnen nicht mehr anbieten als gute palliative Pflege, die sie aber ohnehin auch in den Seniorenheimen erhalten", schildert die Ärztin Nele Van Den Noortgate von der Uni-Klinik in Gent dem belgischen TV-Sender RTBF. "Es handelt sich um Patienten, deren Leben man mit Behandlung verlängern kann, sich aber nie mehr davon erholen werden."
Besuchsverbote
Wer zur Behandlung in ein Spital darf, entscheidet letztlich ein Arzt. Weil aber nicht immer Ärzte zum aktuen Zeitpunkt kommen können, werden manche Entscheidungen am Telefon getroffen. Die Familien werden informiert, und nicht immer kann deren Wunsch, den Vater oder die Mutter doch ins Spital zu bringen, auch erfüllt werden.
Das Schlimmste dabei: Die sterbenden Erkrankten dürfen nicht besucht werden. Für alle Alten- und Pflegeheime in Belgien herrscht striktes Besuchsverbot.
Die Direktive sorgt denn auch für massive Empörung: "Ich kann nicht verstehen, warum Menschen nicht im Spital behandelt werden sollten und wenn es ihr Zustand verlangt, nur, weil sie im Seniorenheim sind." Benjamin Thorekens, Leiter eines Pensionistenheimes in der Stadt Mons äußert sich im Interview mit RTBF entsetzt. "Ich bin im Kontakt mit den Spitälern in der Region, und ich weiß, dass die Intensivbetten noch nicht voll belegt sind."
Die Altenheime verfügen über kaum über medizinische Möglichkeiten, an Covid-19 Erkrankte zu betreuen. Nur palliative Pflege ist möglich. "Es gibt ein vorgeschriebenes medizinisches Protokoll: Morphium, Anxiolytika, Medikamente, um den Übergang möglichst erträglich zu machen", schildert eine Pflegerin eines Seniorenheimes dem belgischen Fernsehen.
Anderer Zugang zum Sterben
Dass Direktiven wie jene der nationalen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie überhaupt getroffen werden, hat in Belgien auch mit einem grundsätzlich anderen Zugang zum Sterben zu tun. Belgien hat seit fast 20 Jahren eines der liberalsten Sterbehilfegesetze der Welt. Belgische Bürger dürfen ihren Arzt um Hilfe beim Sterben bitten, wenn sie unheilbar krank sind oder mit "unerträglichen psychischen Leiden" kämpfen. Selbst Kinder unter 18 Jahren dürfen in besonderen Fällen dieses Recht in Anspruch nehmen. Im Vorjahr erhielten 2.655 Belgier Sterbehilfe – die Zahlen steigen jedes Jahr.
Die flämischen Liberalen (Open VLD) haben im Vorjahr eine neue Debatte über aktive Sterbehilfe für alte Menschen sogar ohne unheilbare Krankheit angestoßen. Die Vorsitzende der Partei, Gwendolyn Rutten, sprach sich für aktive Sterbehilfe für Ältere aus, die ihr Leben als beendet ansehen.
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