„Puschkin als Waffe“
Nur: Ganz so einfach ist es nicht. Unbelastet sind die Namen nämlich nicht, auch wenn die Akteure selbst wenig bis gar nichts dafür können. Sie waren Mittel zum Zweck in einer imperialistischen Kampagne, deren Ziel man – und das ist ein Treppenwitz der Geschichte – als „Canceln“ bezeichnen könnte: Unter der Ägide Stalins wurden in den 1930ern alle nach Ukrainern benannten Straßen und Plätze bewusst russifiziert.
„Sie sind damit nur vermeintlich neutral“, sagt Ukraine-Experte Sergej Sumlenny, Chef des Berliner Think Tanks European Resilience Initiative Center. „Der Ukraine wurden diese Namen aufgezwungen“, sie waren Teil der blutigen Säuberungen, mit denen Moskau den aufkeimenden ukrainischen Nationalismus auslöschen wollte. „Damals ist die gesamte ukrainische Kulturlandschaft ausgerottet worden“, sagt Sumlenny. Tausende Schriftsteller, Musiker, Politiker landeten im Gulag, ein Auflehnen gegen die russisch dominierte Zentralmacht, die auch Russisch als Sprache forcierte, sollte unmöglich werden.
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Puschkin allerorts
In Folge wurden die Stadtbilder der ganzen UdSSR ident, Tolstoj-Straßen, und Gorkij-Parks gab es von Lwiw bis Wladiwostok, nur nationale Identität war unerwünscht. In der Ukraine führte das zur absurden Situation, dass es nach 1991 sogar mehr Puschkin-Straßen gab als in Russland – ukrainische Namensgeber suchte man vergebens.
Bis in die 2010er-Jahre rüttelte kaum jemand am historisch belasteten Erbe, erst mit den Euromaidan-Protesten 2014 fielen die Lenin-Statuen im Land. Später erließ Präsident Petro Poroschenko ein Gesetz, das alles Sowjetische verbannte, etwa Hammer und Sichel oder den roten Stern; ausgenommen waren künstlerisch Wertvolles sowie Symbole, die mit dem Sieg über die Nazis verbunden waren. „So wurden viele Konflikte umgangen“, sagt Sumlenny, denn unumstritten war das Gesetz nicht.
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Die Identitäts- und die Sprachenfrage dominierten lange den öffentlichen Diskurs, bewusst angefeuert aus Russland, aber auch, weil Sowjetzeit und Russland für viele Ältere lange positiv besetzt waren. Das habe sich seit der Invasion 2022 aber erledigt, sagt Sumlenny: Heute gebe es in Wissenschaft und Gesellschaft Konsens über die Notwendigkeit der Umbenennungen.
Kaum Gegenwind
Tatsächlich ist die Zahl jener, die die Entrussifizierung ablehnen, gering. Laut Umfragen sind 60 Prozent dafür, 13 Prozent dagegen; 20 interessiert das Thema gar nicht. Medial wird auch erstaunlich wenig Wind darum gemacht. Das hat wohl damit zu tun, dass Russland seine Kultur auch jetzt wieder als Waffe einsetzt – als Cherson erobert wurde, hingen plötzlich überall Puschkin-Poster, versehen mit Texten wie „Cherson – auf immer mit Russland“ .
„Putin hat Puschkin zu einer Kriegswaffe gemacht“, sagt Sumlenny, ganz wie Stalin damals. Dazu re-russifizieren die Besatzer ganze Städte. Bachmut etwa läuft in Russland wieder unter Artjomowsk, benannt nach einem kommunistischen Kommandeur, der dort wütete.
Angst, als Kollaborateur zu gelten
Ein anderer Grund, warum es so wenig Gegenwind gibt, könnte aber auch die Angst vieler Menschen davor sein, mit ihrer Meinung als Sympathisant oder gar Kollaborateur zu gelten. In der Ukraine ist man darum bemüht, einen nicht allzu brachialen Umgang mit den demontierten Kulturgütern zu finden, um keine Spaltung in der Bevölkerung zu forcieren.
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Katharina die Große, deren Statue in Odessa gestürzt wurde – und zwar vom Bürgermeister, der vor dem Krieg noch pro-russisch war – wurde darum nicht entsorgt, sondern im Museum ausgestellt. Und aus den Schulen wurden die großen russischen Literaten nicht verbannt, aber sie werden als fremdsprachige Literatur unterrichtet und ins Ukrainische übersetzt.
In Russland wird das mit großem Zorn beobachtet. Nach der Ankündigung des Derussfizierungs-Gesetzes kommentierten Propagandisten, dass darauf nur eines folgen könne – die „Deukrainisierung“ der Ukraine.
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