Heim in den Krieg
Die Frauen hier im Zug D14049, und es sind fast nur Frauen, haben alle dasselbe Ziel. Es ist ihr altes Leben, ihre Routinen, der Alltag, die Menschen, selbst der Stress. All das, was es seit dem 24. Februar 2022 nicht mehr gibt. Geblieben, sagt Valentina, ist nur die Sehnsucht.
„Ich weiß nicht, ob er uns vom Bahnhof abholt“, sagt Irina, 30, ihre Stimme ist unsicher. Der Zug beginnt langsam zu rollen, Irina sitzt mit ihren beiden Kindern im Nebenabteil, drei Betten, gerade sechs Quadratmeter. Draußen scheucht die Schaffnerin Leute vom Gang, der Zug ist voll, wie jeden Tag.
Irinas Sehnsucht hat einen Namen, Aleksej, für die Kinder heißt er nur Papa. Aus Linz kommen sie, erzählt sie, der Blick geht zu Mascha und Kirill, endlich wieder mal fahren sie zurück. Die Kleinen lesen in ihren Büchern, Handyempfang gibt es keinen mehr, wir sind schon über der Grenze.
Vier Monate, drei Tage, zwei Stunden, „so lange habe ich Papa nicht gesehen“, sagt Mascha, sie zählt mit den Fingern. In Kiew wird er am Bahnsteig stehen, mit einem Geschenk, da ist sie sich sicher. Sie sei gerade neun geworden, und das müsse man feiern.
Angst um die Männer an der Front
Ob er wirklich da sein wird, nun ja, Irina weiß es nicht. Sie spricht lieber von ihrem alten Job als Lehrerin, vom Haus am Kiewer Stadtrand, über die Blumen, die dort bald blühen. Ob Aleksej da wohnt? Nein, er sei auch schon lange nicht mehr dort gewesen. Er sei an der Front, sagt sie leise. Nicht vor den Kindern, obwohl die ohnehin alles wissen.
Wie hält man das nur aus? Die Blicke der Kinder, die immer mehr hören als sie sollen, und mehr verstehen, als sie können. Die Funkstille. Die Ungewissheit.
Die Schaffnerin, toupiertes Haar, strenger Blick, teilt Bettwäsche aus. Die Betten müssen selbst bezogen werden. Ihr blauer Lederbezug hat Risse, er stammt aus der Sowjetzeit, so wie der ganze Waggon. Er klappert, riecht muffig, aber immerhin nach Heimat.
Dass die Männer fehlen, darüber lachen sie, auch wenn es nicht zum Lachen ist. Scheidungen, sagt Irina, gebe es zu Hause so gut wie keine, das mache man in Kriegszeiten nicht. Fremd seien sich aber fast alle geworden, auch sie und Aleksej. „Wenn er von der Front kommt, ist er ein anderer“, sagt sie. Er brauche Tage, um wieder er zu werden, ein bisschen zumindest. Tage, die sie nicht haben.
Mascha und der siebenjährige Kirill werfen mit Pölstern, einer landet im Essen. Speisewagen gibt es hier keinen, man bringt alles mit: Hühnerkeulen, Gurken, Tomaten, das ist Abendessen, Frühstück, Mittagessen in einem. Die Kinder kichern, Irina schaut ein wenig streng.
Improvisationsmeisterinnen
Hier im Zug, da ist noch alles normal, der Krieg weit weg. Wenn die Schaffnerin später sagt, der zweite Waggon sei kaputt, in der Nacht müssen mehr als drei Personen ins Abteil, dann ist das nicht schlimm: Aha, Mist, in Ordnung, wir schlichten uns. Manche schlafen zu zweit auf 60 Zentimetern, andere, wie Valentina, stehen die halbe Nacht am Gang. „Die Mütter mit den Kindern brauchen den Schlaf“, sagt sie. Die Scheibe vor ihr ist mit Plastikfolie beklebt. Damit nichts splittert, wenn die Bomben fallen.
Sie sind alle Improvisationsmeisterinnen, die Frauen hier. Die Schaffnerinnen, die Passagierinnen, sie alle tun, tun, tun, sie helfen, stützen einander. Jammern, nein, das macht hier keine. So wie die Bahn in der Ukraine noch immer bis an die Front fährt, und das meistens pünktlich, funktionieren auch die Menschen.
Aber wie lange noch?
Die Angst bleibt
Vor dem Bahnhof fürchte sie sich ein wenig, sagt Irina. Dann sei der Krieg fühlbar, nicht mehr zu verleugnen, Und ja, auf dem Bahnhof werden wir sie später sehen: Männer auf Krücken, mit nur einem Arm, nur einem Bein. Wie es ihrem Aleksej geht? „Das weiß ich nicht.“
Schon vorher, als der Zug Kiew näherkommt und die Dörfer mehr und mehr nach Zuhause aussehen, wird es langsam leiser. Valentina schaut auf die Uhr. „Nochmals 24 Sunden, dann bin ich zu Hause in Slowjansk“, sagt sie. Das letzte Mal, als sie da war, habe sie ein Fenster repariert, es war zerschossen. „Vielleicht hat es ja gehalten“, sagt sie. Viel Hoffnung hat sie nicht.
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