Nachwahlchaos: Wer soll Frankreich jetzt regieren?

Junge Frauen feiern in Paris
Nach den Parlamentswahlen herrscht in Teilen des Landes Erleichterung, dass die Rechtsextremen nur den dritten Platz erreichten. Aber jetzt ist offen: Kann eine Koalition je funktionieren?

Die Feiern wollten kaum ein Ende finden in dieser Nacht auf dem Pariser Platz der République. In dieser traditionellen Bastion der Linken stimmten nach Ende der französischen Parlamentswahlen Tausende Lieder an und fielen einander in die Arme. 

„Es ist ein doppelter Sieg: Die Linken triumphieren, die Rechtsextremen sind ausgebremst“, rief ein junger Mann. „Heute fühlte ich einfach nur Glück“, jubelte eine Seniorin. Auch wenn sie schon wisse, dass es jetzt erst so richtig kompliziert werde.

Später in dieser Nacht von Sonntag auf Montag kam es auch zu Ausschreitungen und Zusammenstößen von Demonstranten mit der Polizei in Paris, Lille und anderen französischen Städten. Doch die Feierstimmung überwog unter den Anhängern der Linken.

Das Bündnis Neue Volksfront lag mit 182 Sitzen in der Nationalversammlung vor dem Lager von Präsident Emmanuel Macron mit 168 Sitzen und dem rechtsextremen Rassemblement National (RN) mit 143 Sitzen. Die Umfrageinstitute hatten eine völlig andere Konstellation vorhergesagt. Sie sahen den RN deutlich an erster und das Parteienbündnis von Macron an dritter Stelle.

Katerstimmung

Konnte sich das bisherige Regierungslager besser behaupten als erwartet, so herrschte beim RN Katerstimmung. Die rechtsextreme Partei hatte sich an der Pforte zur Macht geglaubt – umso größer war die Enttäuschung. „Natürlich müssen wir unsere Fehler aufarbeiten“, sagte die RN-Vizepräsidentin Edwige Diaz am Montag betont sachlich. „Aber wir dürfen jetzt auch nicht den historischen Sieg übergehen, den wir errungen haben: Bis vor zwei Jahren waren wir sieben in der Nationalversammlung, dann 88 und jetzt 143.“ 

Tatsächlich gehört es zur Wahrheit, dass rund zehn Millionen Menschen für die Partei von Marine Le Pen stimmten. Deren Ziel besteht weiterhin darin, die nächsten Präsidentschaftswahlen 2027 zu gewinnen. 

Diaz beklagte, dass sich die anderen Parteien zu „Allianzen wider die Natur“ zusammengetan hätten, die sie benachteiligten. In mehr als 200 Wahlbezirken, in denen sich in der ersten Runde Kandidaten der drei großen politischen Blöcke qualifiziert hatten, zogen sich Bewerber von Macrons Mitte-Lager oder der Linken zurück, um jene des RN zu verhindern.

Das ist gelungen – doch nun stellt sich die Frage, wie in Frankreich angesichts der drei großen Blöcke in der Nationalversammlung regiert werden soll. Zumindest einen sofortigen Wechsel gab es nicht. Der bisherige Premierminister Gabriel Attal bot dem Präsidenten am Montag seinen Rücktritt an, so wie es die Verfassung vorsieht. Doch der Élysée-Palast teilte mit, Macron habe Attal gebeten, „für den Moment“ in seiner Funktion zu bleiben, um „die Stabilität des Landes abzusichern“.

Nachwahlchaos: Wer soll Frankreich jetzt regieren?

10 Millionen Franzosen wählten den rechten Rassemblement National

Olympische Spiele

Formal gibt es keine Frist, bis zu der eine Regierung stehen muss. Allerdings kommt die neue Nationalversammlung am 18. Juli erstmals zusammen. Nur eine Woche später beginnen die Olympischen Spiele in Paris – der schlechteste Zeitpunkt für Unsicherheit an der Spitze des Landes.

Mehrere Optionen bieten sich nun an, sagt Luis Sattelmayer, Forscher am Zentrum für Europäische Studien CEE an der Elitehochschule Sciences Po Paris. „Rein theoretisch kann Macron zum Premierminister ernennen, wen er möchte, aber angesichts seiner fehlenden Mehrheit in der Nationalversammlung besteht das Risiko, dass es bei der ersten Abstimmung zu einem Misstrauensvotum kommt.“

Dasselbe könnte den Linken passieren, sollten sie sich auf eine Person einigen, die nicht mehrheitsfähig ist. „Entweder es gelingt die Bildung von Koalitionen, die es in der seit 1958 bestehenden Fünften Republik nicht gab“, so der Experte. „Oder es gibt eine Minderheitenregierung, wie Macron sie im Grunde seit zwei Jahren hatte, wo er mithilfe der Republikaner viele Gesetze durchgeboxt hat.“

Mehrere Vertreter der Neuen Volksfront haben derweil angekündigt, noch in dieser Woche den Vorschlag für einen neuen Premierminister oder eine -ministerin zu machen. Die Chefs der Sozialisten, Grünen und Kommunisten lehnen den langjährigen Chef der Linkspartei LFI, Jean-Luc Melenchon,  (La France Insoumise, „Das unbeugsame Frankreich) ab, der sich am Wahlabend als erster vor die Mikrofone gestellt hatte, um sich dennoch in Position zu bringen und eine Art Kampfansage an Macron zu machen. „Macron muss der Neuen Volksfront den Regierungsauftrag erteilen“, tönte er.

Umstritten ist der ehemalige Sozialist, der die Partei 2008 verließ, unter anderem aufgrund seines harschen Umgangs mit Kritikern. Zuletzt schadeten ihm Antisemitismus-Vorwürfe, nachdem LFI sich weigerte, die Anschläge der Hamas auf Israel am 7. Oktober als „terroristisch“ zu bezeichnen. Sattelmayer hält die Vorwürfe für unzutreffend, Mélenchon habe auch für die Opfer der Attacke Mitgefühl geäußert. Aber aus wahltaktischen Gründen blieb der Hauptfokus auf der Verteidigung der Palästinenser. 

Als linksextrem ist Mélenchon laut dem Politikwissenschaftler nicht einzustufen. „Er redet laut und tritt kompromisslos auf, aber er ist weit davon entfernt, Frankreich aus der EU oder der NATO führen zu wollen“, sagt Sattelmayer. Das Programm der Neuen Volksfront ähnele dem des einstigen sozialistischen Präsidenten François Mitterrand bei dessen Antritt 1981.

Wirklich umsetzbar dürfte es unter einem Präsidenten Macron nicht sein – auch wenn vorerst die Unklarheit über die politische Zukunft Frankreichs überwiegt.

Kommentare