Droht Ursula von der Leyen das Aus? Wer im Machtpoker um die Chefin der EU-Kommission mitredet
Er war der Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei, hatte ein passables Ergebnis bei den Europawahlen 2019 hingelegt und konnte auf die Unterstützung aus Berlin zählen: Der Bayer Manfred Weber hatte quasi schon mit der Auswahl der Teppiche für sein Büro im Brüsseler Hauptquartier der EU-Kommission begonnen.
Als "Spitzenkandidat" abgeschoben
Doch dann kam alles anders. Zuerst schien sich die endgültige Entscheidung über den neuen Präsidenten der EU-Kommission nur zu verzögern. Dann aber wurden die Bedenken immer lauter, vor allem aus Paris. Denn dort wollte sich Präsident Emmanuel Macron nicht mit dem CSU-Politiker abfinden, der ihm zu wenig charismatisch war und der vor allem – mon dieu! – kein Französisch sprach. Schließlich zauberte man im Pariser Elysée-Palast Ursula von der Leyen aus dem Hut.
Störgeräusche aus Paris
Fünf Jahre und eine Amtsperiode später sind es schon wieder Störgeräusche aus Paris, die einen Favoriten oder diesmal eine Favoritin ins Wanken bringen könnten.
Seit Wochen signalisiert Macron seine Unzufriedenheit mit der deutschen Konservativen und bringt über Medienberichte andere Kandidaten ins Spiel. Vor allem Mario Draghi, ehemals italienischer Premier und Chef der Europäischen Zentralbank. Draghi hat für die EU-Kommission einen Bericht über Zustand und Perspektiven der europäischen Wirtschaft erstellt, vor allem in Hinblick auf deren Konkurrenzfähigkeit im globalen Wettbewerb.
Ein Italiener im Spiel
Das soll nach Macrons Meinung das Leitmotiv für die nächsten fünf Brüsseler Jahre sein. Warum also sollte nicht gleich Draghi das Ganze dirigieren?
Der Vorstoß wurde von den anderen wesentlichen Entscheidungsträgern in den EU-Hauptstädten anfangs weitgehend übergangen. Doch schließlich fing man auch in Berlin offensichtlich zu überlegen an, warum eine Regierung mit einem Sozialdemokraten als Kanzler sich kompromisslos auf eine Konservative festlegen müsse.
Verärgerung in Berlin führt zu Meinungsumschwung
Dazu kam, dass Von der Leyen selbst dazu beitrug, Kanzler Olaf Scholz zu verärgern. Die Kommissionschefin zeigte Interesse an einem politischen Bündnis mit Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni. Deren von politischen Beobachtern bis heute als „postfaschistisch“ bezeichnete Partei Fratelli d’Italia ist für Europas Sozialdemokraten als Partner inakzeptabel. Damit aber wackelt das bisherige Bündnis zwischen ihnen und den Christdemokraten im EU-Parlament.
Das Tauziehen hat längst begonnen
Die EU-Wahl wird nicht nur die Mehrheiten im EU-Parlament verschieben, sie wird auch für Erschütterungen in einigen europäischen Hauptstädten sorgen. Umso schwieriger wird das politische Tauziehen um die EU-Führungsfigur danach – und der Ausgang könnte ebenso überraschend sein wie 2019.
Spiel um die Macht in Brüssel: Wer verfolgt welche Strategie?
Emmanuel Macron: Präsident in der Krise will sich in Europa beweisen
Frankreichs Präsident steht innenpolitisch mit dem Rücken zur Wand. Da ist nicht nur die Herausforderung durch die Rechtspopulistin Marine Le Pen, die ihn in allen Umfragen weit hinter sich gelassen hat. Da ist vor allem die chronische Wirtschaftskrise in Frankreich. Die Bevölkerung ist empört über die Inflation, die das Leben für viele unerträglich teuer macht. Speerspitze des Protests sind Frankreichs Bauern, die gegen die von Brüssel verordnete grüne Politik rebellieren. Der angeschlagene Präsident, der wie viele seiner Vorgänger eine Vorliebe für große politische Gesten – vorzugsweise auf der internationalen Bühne – hat, will mit der Rolle als Königsmacher in der EU seine politische Handlungsfähigkeit demonstrieren.
Marine Le Pen: Von rechts außen in die Mitte und an die Macht
Seit 2012 versucht sie die Präsidentschaftswahlen in Frankreich für sich zu entscheiden – und ist zuletzt, 2022, ihrem Ziel schon ziemlich nahe gekommen. In der Stichwahl aber hatte sie gegen Macron letztlich doch keine Chance. Die EU-Wahl ist für Marine Le Pen vor allem eine Bühne, um den aktuellen Unmut der Franzosen für sich zu nützen und um ihre Partei Rassemblement National politisch weiter in die Mitte zu rücken. Also sucht sie in Europa Mitspieler für ein Bündnis von Parteien rechts der Mitte. Ihre Favoritin dafür ist Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni. Zugleich geht sie klar auf Distanz zu Parteien am rechten Rand in Europa, also etwa Deutschlands AfD, denen sie die Zusammenarbeit aufgekündigt hat.
Olaf Scholz: Krise im Kanzleramt, Eiertanz in Europa
Zuhause in Berlin sieht es für ihn und seine SPD schlecht aus. In Umfragen, auch jenen zur EU-Wahl, muss man sich mit Grünen und der rechten AfD um den zweiten Platz raufen, während die Union um Lichtjahre vorne liegt und deren Chef, Friedrich Merz, sich schon als potenzieller Kanzler warmläuft. Wirtschaftlich schwächelt Deutschland mehr als die europäischen Mitbewerber. Zugleich zittert die vom Export nach Ostasien abhängige Industrie vor einem drohenden Handelskrieg mit China, dem etwa die Franzosen recht gelassen entgegensehen. Auch bei der Unterstützung der Ukraine versucht der als Schweigekanzler punzierte Scholz einen Mittelweg – und der sieht oft nach lahmem Kompromiss aus.
Giorgia Meloni: Mit Geld aus EU-Kasse auf politischem Höhenflug
Eigentlich kommen die Fratelli d’Italia politisch vom rechten Rand und werden bis heute als „postfaschistisch“ bezeichnet, doch Giorgia Meloni hat der Partei ein neues Image verpasst und will sich mit der Macht in Rom nicht zufrieden geben, sondern auch in Europa viel mehr mitspielen. Unterstützt wird sie dabei von der Europäischen Volkspartei und deren „Spitzenkandidatin“ Ursula von der Leyen, die sich demonstrativ an die Seite der Italienerin stellt. Rückenwind verschafft Meloni auch die derzeitige Stärke der italienischen Wirtschaft, die wie keine andere in Europa von EU-Hilfsgeldern zum Wiederaufbau nach der Pandemie profitiert hat. Der Schuldenstand des Landes aber bleibt besorgniserregend.
Viktor Orban: Europas Querkopf darf jetzt dirigieren
Hinter den Kulissen wurde in Brüssel seit Monaten diskutiert, ob man das Unmögliche nicht möglich machen – und Ungarn den EU-Vorsitz einfach wegnehmen sollte. Den tritt das Land und damit Viktor Orbáns Regierung nämlich ab Juli an. Das zu verhindern war den meisten Entscheidungsträgern in Europa zuletzt aber doch zu viel politische Willkür. Trotzdem herrscht vor der Übernahme durch Ungarn einige Nervosität. Schließlich hat sich Orban im Konzert der 27 EU-Regierungschefs mehr denn je durch hartnäckiges „Nein“-Sagen in den Mittelpunkt gerückt. So blockiert Ungarn weiterhin alle Gelder zur militärischen Unterstützung der Ukraine und nützt sein Veto auch, um Gespräche über einen EU-Beitritt zu blockieren.
Karl Nehammer: Migration und eine Zukunft für Verbrenner
Da die Entscheidung über den künftigen Chef der EU-Kommission nur eine „qualifizierte Mehrheit“ unter den EU-Staaten braucht, ist Österreichs Einfluss bescheiden. Trotzdem nahm sich Ursula von der Leyen am Freitag Zeit für einen Blitzbesuch in Wien und beim Bundeskanzler. Offensichtlich, um Österreich weiterhin Gehör für dessen aktuelle Kernthemen zu versichern: den Kampf gegen illegale Migration und einen Aufschub des für 2035 geplanten Aus für neue Autos mit Verbrennungsmotoren. Österreich, das bei jedem EU-Gipfel darauf drängt, das Thema Migration auf die Tagesordnung zu setzen, will eine rasche Umsetzung des EU-Asyl- und Migrationspakets. Doch die Hürden sind hoch.
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