USA: Angst vor neuem Angriff auf die Demokratie?

USA: Angst vor neuem Angriff auf die Demokratie?
Ein Jahr Biden – und immer noch halten 70 Prozent der Republikaner Trump für den rechtmäßigen Gewinner. Dieser will zurück ins Weiße Haus.

Leute wie Bill Cassidy muss man bei den US-Republikanern im Moment mit der Lupe suchen. Der Arzt, der für den Bundesstaat Louisiana im Senat von Washington sitzt, hat das sichere Gefühl, dass Donald Trump zu viel Verlierer-Image hat, um 2024 erneut Präsidentschaftskandidat zu werden.

"Er wird nicht unser Kandidat sein", sagte Cassidy kürzlich im Fernsehsender HBO, "ich würde ihm meine Stimme nicht geben." Was Cassidy als Malus sieht, hat in weiten Teilen der Republikaner null Relevanz. Dass unter Donald Trump binnen vier Jahren Mehrheiten in beiden Kammern des Kongresses verloren wurden und 2020 auch das Weiße Haus, dieser Misserfolg wird heute offen geleugnet.

So teilen laut Studien fast 50 Millionen Amerikaner die von Trump seit der Wahlnacht vor exakt einem Jahr nahezu täglich verbreitete Behauptung, ihm sei der Wahlsieg durch Manipulationen von den Demokraten gestohlen worden.

USA: Angst vor neuem Angriff auf die Demokratie?

Trump lässt sich wieder öfter auf der Bühne von Fans feiern.

44 Prozent der republikanischen und unabhängigen Wähler befürworten einen zweiten Anlauf des Unternehmers, der sich mit einer eigenen Internet-Plattform (Truth social) finanziell sanieren und der Verbannung durch Facebook und Twitter kontern will. Laut einer aktuellen Studie sind fast 70 Prozent der Republikaner überzeugt, bei der Wahl 2020 sei es nicht mit rechten Dingen zugegangen.

Bissiger Trump

Trump macht sich das bei seinen Kundgebungen vor Tausenden Fans zunutze. Seit die Biden-Regierung in Umfragen wegen des Abzugs aus Afghanistan, der Flüchtlingsmisere an der Grenze zu Mexiko, der stagnierenden Corona-Bekämpfung und dem politischen Stillstand in Washington im Ansehen der Bevölkerung rapide abgestürzt ist, agiert der Amtsvorgänger aufmüpfiger denn je. Tenor: Biden muss weg. Sonst geht Amerika unter.

Ohne sich festzulegen (seine Anwälte haben ihm mit Blick auf die strikten Wahlkampf-Spenden-Gesetze abgeraten), kokettiert Trump damit, ab 2025 zum zweiten Mal die Geschicke des Landes übernehmen zu wollen.

Sollten die Republikaner bei den Zwischenwahlen zum Kongress im Herbst 2022 den Demokraten ihre knappen Mehrheiten entreißen, wird Trump sich als "Königsmacher" präsentieren und – wenn nicht gesundheitliche Probleme oder Prozesse dazwischenkommen – wahrscheinlich seinen Hut in den Ring werfen. Damit wären potenzielle innerparteiliche Konkurrenten – Ex-Vize Mike Pence oder Florida-Gouverneur Ron DeSantis – quasi out. "Sie würden von Trump brutal weggebissen", sagen republikanische Strategen.

Propaganda-Feldzug

Anders als erwartet hat sich Trumps Zugriff auf die Partei kein bisschen gelockert. Wer seine große Lüge vom gestohlenen Wahlsieg nicht nachbetet, wird öffentlich schikaniert, beim Wähler angeschwärzt und mit parteiinternen Gegenkandidaten konfrontiert. Bis auf wenige Dissidenten gibt dem immer autokratischer auftretenden New Yorker niemand Kontra. Gegner sind an den Rand gedrängt oder geben desillusioniert auf.

Trump kann es sich sogar leisten, den mächtigsten Republikaner, Senator Mitch McConnell, öffentlich zu demütigen, weil dieser ihm die Gefolgschaft beim Privat-Feldzug gegen Joe Biden verweigert. McConnell weiß zu gut: Über 60 Gerichtsverfahren, bis hin zum Obersten Gerichtshof, bestätigen: Es gab bei der Wahl keine Unregelmäßigkeiten, die ins Gewicht fielen.

Aber Trumps Propaganda, unterstützt von TV-Sendern wie Fox News, OAN oder Newsmax, reißt nicht ab. Die Mär vom finsteren demokratischen Komplott gegen ihn hat sich im Bewusstsein des radikal republikanisch gestimmten Amerika festgesetzt. Zuletzt zu erleben bei einer Kundgebung in Iowa. Tausende riefen dort wie gehirngewaschen: "Trump hat gewonnen!"

Wie toxisch die genährten Zweifel am demokratischen System sind, das hat die Universität Chicago untersucht. Danach glauben mehr als 20 Millionen erwachsene Amerikaner, dass der Einsatz von Gewalt gerechtfertigt sei, um Trump wieder ins Amt zu bringen.

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Gerät im Weißen Haus immer mehr in die Defensive: US-Präsident Biden muss um seine wichtigen politischen Ziele kämpfen.

Nur der Auftakt

Der Angriff aufs Kapitol vom 6. Jänner könnte also nur der Auftakt zu einem noch schwereren Angriff auf die amerikanische Demokratie gewesen sein. Bei den nächsten Präsidentschaftswahlen 2024, so hat der renommierte konservative Publizist Robert Kagan unlängst beschrieben, wird Trump aus den Anfänger-Fehlern vom 6. Jänner gelernt haben.

Mit bis dahin auf legal getrimmten Tricks werde Trump die Weichen dafür stellen, dass er selbst bei einer Niederlage zum Sieger ausgerufen werden kann, sagt Kagan. Wie das ginge? In rund zwei Dutzend Bundesstaaten sind die Wahlgesetze inzwischen extrem verschärft worden. Die Briefwahl, die Biden sehr geholfen hat, wird massiv erschwert.

Sollte Trump antreten und durch knappe Ergebnisse in einzelnen Regionen verlieren, können republikanisch beherrschte Landesparlamente die Listen für das "electoral college" (Wahlmänner-Gremium) nach Gutdünken mit Loyalisten so bestücken, dass Trump trotzdem der Weg ins Weiße Haus geebnet würde. Kagan bilanziert bereits: "Die Verfassungskrise ist längst da!"

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