Harris wählt Minnesotas Gouverneur Walz als Vize-Kandidat
Genau betrachtet, gar nicht so „weird”, zu deutsch: seltsam. Die Demokratin Kamala Harris setzt knapp 90 Tage vor der Präsidentschaftswahl in den USA gegen den republikanischen Herausforderer Donald Trump ganz auf in die Arbeiterschicht vermittelbar Bodenständigkeit und Eliten-ferne Volksnähe.
Sie macht Tim Walz, Gouverneur des ländlichen Bundesstaates Minnesota im Mittleren Westen, zu ihrem Vize-Präsidentschaftskandidaten. Das wurde am Dienstagmorgen durch diverse Medien-Berichte (CNN, Nachrichtenagenturen etc.) in Washington bekannt. Später sollte ein entsprechendes Video der Harris-Kampagne in sozialen Medien schnell tausendfache Verbreitung finden.
Bereits am Abend wollte die Vize-Präsidentin von Amtsinhaber Joe Biden, der aus Altersgründen auf eine zweite Kandidatur verzichtet hat, den 60-Jährigen bei einer Kundgebung in Philadelphia offiziell vorstellen.
Timothy J. Walz, kurz Tim, wurde im für endlose, karge Weiten bekannten Nebraska geboren. Er ging auf öffentliche Schulen, besucht ein gewöhnliches College und wurde - nach einem kurzen pädagogischen Abstecher nach China - Erdkunde-Lehre an einer Schule im Süden von Minneapolis, der Metropole von Minnesota.
Gemeinsam mit seiner Frau Gwen, ebenfalls Lehrerin, zieht er zwei Kinder groß: Hope und Gus. Walz hat rund ein Vierteljahrhundert in der National-Garde gedient. Außerhalb des Klassenzimmers trainierte er eine Football-Schul-Mannschaft.
Jäger, Waffenbesitzer - und Waffen-Kritiker
Der weißhaarige Mann mit der hohen Stirn ist ein leidenschaftlicher Jäger, also Waffenbesitzer, und Angler. Seit dem Schul-Massaker von Parkland/Florida 2018 setzt er sich für ein Verbot von Schnellfeuer-Gewehren ein.
Seit seinem Eintritt in die Politik 2006, er war danach zwölf Jahre Abgeordneter für seinen Bundesstaat in Washington, besticht er durch eine empathisch Ansprache, die verständlich ist, ohne fahrlässig zu simplifizieren. 2019 wurde er erstmals Gouverneur von Minnesota. Seine Wiederwahl 2022 war Formsache. Walz kann mit demokratischen Mehrheiten in beiden Kammern des Kongresses in St. Paul regieren.
Unter seiner Führung verankerte Minnesota das Recht auf Abtreibung in der Bundesstaats-Verfassung, legalisierte den Konsum von Marihuana zu privaten Zwecken, führte kostenloses Essen in öffentlichen Schulen ein, verpflichtete Arbeitgeber zur Gehaltsfortzahlung im Krankheitsfall und erweiterte Hintergrund-Kontrollen vor dem Kauf von Schusswaffen. Alles Themen, die ihn mit Harris verbinden.
Mit einem Etikett aus republikanischer Sicht beschrieben: links-progressiv. Mit einer wichtigen Nuance: Walz hat nichts Ost- oder Westküstenallürenhaftes an sich. Er spricht die Sprache von „fly over”-Amerika, jene riesigen Landstriche, die überwinden muss, wer von New York nach Los Angeles will. Und wo sich eine gewisse Underdog-Mentalität festgesetzt hat, gepaart mit dem Gefühl von „denen da oben” belächelt zu werden. Tim Walz, sagen langjährige Begleiter, ist die „authentische Anti-These zu Politikern, die sich reiche Geldgeber am Reißbrett basteln”.
Verschärftes Speed-Dating
Kamala Harris` Auswahlprozess glich notgedrungen einem verschärften Speed-Dating. Bis zum 7. August muss aus wahltechnischen Gründen die „Veep-“Entscheidung gefallen sein. Harris hatte erst seit dem Rückzug Bidens vor 16 Tagen Wochen Beinfreiheit, um ihre Fäden zu ziehen.
Von anfänglich rund zehn Namen blieben bei den Schlussgesprächen am Sonntag in Harris` Amtssitz am Naval Observatory in Washington DC mit Walz, Arizona-Senator Mark Kelly und Pennsylvanias Gouverneur Josh Shapiro drei Kandidaten über. Sie wurden nach vorheriger Durchleuchtung durch die Anwaltskanzei des früheren Obama-Justizministers Eric Holder in persönlichen Gesprächen getestet. Dabei ging es nicht zuletzt um die Frage der persönlichen Chemie. Die 59-Jährige suche einen Mitstreiter, mit dem schnell eine verlässlich-loyale Arbeitsebene gefunden werden kann - und mit dem auch gelacht werden darf, sagen Vertraute.
Für Kelly sprach parteiübergreifende Strahlkraft in Arizona, durch die persönliche Betroffenheit seiner Frau Gabby Giffords hohe Glaubwürdigkeit beim Thema Eindämmung der Schusswaffengewalt und seine langjährige Nasa-Astronauten-Karriere. Shapiro, wie Harris früher Generalstaatsanwalt, hätte als lange favorisierte Spitzenfigur des Bundesstaates Pennsylvania, in den bisher von beiden Parteien insgesamt fast 500 Millionen Dollar an Wahlwerbung gesteckt wurden, wichtige Schützenhilfe im „electoral college” leisten können, wo 270 Stimmen zur Präsidentschaft benötigt werden. Pennsylvania verfügt dort unter den sieben umkämpften Swing Staates über das meiste Kapital: 19 Stimmen. Bei einem wie schon 2020 erwarteten hauchdünnen Ausgang der Wahl könnte das der Schlüssel zum Weißen Haus sein.
Faustdicke Überraschung
Dass Harris am Ende dem national trotz seines Vorsitzes in Dach-Organisation der demokratischen Gouverneure eher unbekannten Walz trotzdem den Vorzug gab, stellt eine faustdicke Überraschung dar. Minnesota bringt im „electoral college” nur zehn Stimmen mit. Der Bundesstaat ist trotz neulicher Umfragenschwankungen seit über 50 Jahren bei Präsidentschaftskandidaturen fest in demokratischer Hand. Walz, der oft mit T-Shirt und Baseball-Kappe vor die Kameras tritt, geht zudem jeder handelsübliche Glamour ab, der im US-Politshowgeschäft gern gesehen wird. Warum dann die Wahl auf ihn fiel?
Walz kann in vielen landwirtschaftlich und alt-industriell geprägten Bundesstaaten „der vielleicht beste Kronzeuge dafür sein, dass Kamala Harris - anders als die Trump-Kampagne täglich behauptet - keine linksradikale Politik betreiben will”, sagen demokratische Strategen in Washington. Dazu komme seine „folksy” und unprätentiöse Art, mit Andersdenkenden umzugehen. Als er unlängst im TV damit konfrontiert wurde, dass seine Schul-Politik (kostenloses Essen etc.) im konservativen Amerika als linksradikal empfunden werde, konterte der schlagfertige Redner mit einem kurzen Schmunzeln: „Was für ein Monster! Kinder haben einen vollen Magen und können was lernen.” Nancy Pelosi, die große, alte Dame der Demokraten, die maßgeblich an Bidens unfreiwilligem Rückzug beteiligt war, ist ein Walz-Fan.
"Weird"
Auf der gleichen Wellen-Länge liegt das von Walz in den Wahlkampf eingeführte Schlüsselwort, um Trump und die Republikaner zu entzaubern. Er nennt sie nicht wie andere Demokraten„Demokratiezerstörer”, sondern einfach nur „weird”. Was von kauzig über seltsam und komisch bis zu beknackt und deppert vieles heißen kann, aber nicht so apokalyptisch klingt.
An Walz scheiden sich, wie sollte es bei einem amtierenden Quasi-Ministerpräsidenten auch anders sein, trotzdem die Geister. Vor allem seine Rolle in der Zeit der schweren Ausschreitungen und Brandschatzungen nach dem von der Polizei getöteten Afro-Amerikaners George Floyd in 2020 hat den Argwohn konservativer Kreise befeuert. Danach habe der Gouverneur die Nationalgarde zu spät in Alarm versetzt und so tagelang der Gesetzlosigkeit auf den Straßen von Minneapolis Vorschub geleistet.
Vance greift Harris an: Auf "Hamas-Flügel" gehört
Der Vizepräsidentschaftskandidat der US-Republikaner, J.D. Vance, hat sein frisch verkündetes Gegenüber bei den Demokraten mit drastischen Worten angegriffen. Die Entscheidung für Tim Walz als Vizekandidat unterstreiche, "wie radikal Kamala Harris" sei, sagte Vance vor Journalisten am Dienstag über die Präsidentschaftskandidatin der Demokraten. Er warf ihr unter anderem vor, damit "auf den Hamas-Flügel ihrer eigenen Partei gehört" zu haben.
Mit dieser Aussage bezog sich Vance, Vizekandidat von Donald Trump, darauf, dass Walz besonders vom linken Flügel der Demokraten unterstützt wird. Dieser steht für einen Israel-kritischeren Kurs als die Mitte der Partei und stellte die Nahost-Politik von Präsident Joe Biden und Vizepräsidentin Harris zuletzt immer wieder infrage.
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