Sturm auf Kapitol: Jahrestag verdeutlicht politische Spaltung der USA
Den ersten Jahrestag des Sturm auf das Kapitol in Washington nutzten US-Präsident Joe Biden (79) und sein Vorgänger Donald Trump (75) für einen verbalen Schlagabtausch. Biden machte in seiner Rede Trump für den "blutigen Angriff" auf das Parlament am 6. Jänner 2021 verantwortlich. Dieser erwiderte, sein Nachfolger wolle bloß vom "eigenen Versagen" ablenken. Er erneuerte zudem den Vorwurf, ihm sei der Wahlsieg durch Betrug gestohlen worden.
Ohne Trump beim Namen zu nennen, sagte Biden, dieser habe "ein Netz von Lügen über die Wahlen 2020 geschaffen und verbreitet". "Zum ersten Mal in unserer Geschichte hat ein Präsident nicht nur eine Wahl verloren, sondern versucht, die friedliche Machtübergabe zu verhindern", sagte Biden in einer Ansprache bei der Gedenkveranstaltung zum Jahrestag im Kapitol. Trumps Namen nannte Biden freilich nicht. "An diesem Gedenktag müssen wir dafür sorgen, dass ein solcher Angriff nie wieder geschieht", ergänzte der US-Präsident.
Normalerweise hält sich Biden mit offener Kritik am Vorgänger zurück. Der US-Demokrat kritisierte, der damalige Amtsinhaber habe den Angriff im Weißen Haus im Fernsehen verfolgt "und nichts getan". Trump stelle seine eigenen Interessen über die der USA. "Sein angeschlagenes Ego ist ihm wichtiger als unsere Demokratie oder unsere Verfassung. Er kann sich nicht damit abfinden, dass er verloren hat."
Biden nannte Trumps Betrugsbehauptungen am Donnerstag eine "Big Lie" - eine "große Lüge". Über seinen Vorgänger sagte er: "Er ist nicht nur ein früherer Präsident. Er ist ein besiegter früherer Präsident." Trump sei in einer freien und fairen Wahl unterlegen. An die Adresse von Wählern sagte Biden: "Der ehemalige Präsident und seine Unterstützer haben beschlossen, dass der einzige Weg, um zu gewinnen, darin besteht, Ihre Stimme zu unterdrücken und unsere Wahlen zu untergraben." Das sei "unamerikanisch".
Trumps Gegenangriff
Trump holte umgehend online zum Gegenschlag aus. Biden zerstöre mit seiner Politik die Vereinigten Staaten, schrieb Trump in einer Mitteilung, die seine Sprecherin Liz Harrington auf Twitter verbreitete. Trump selbst ist ja seit dem Sturm aufs Kapitol von der Plattform gesperrt.
Am ersten Jahrestag des Angriffs habe Biden den Namen Trump benutzt "in dem Versuch, das Land weiter zu spalten". "Dieses politische Theater soll allein von der Tatsache ablenken, dass Biden völlig und total versagt hat."
Trump selbst hat eine für diesen Donnerstag geplante Rede kurzfristig abgesagt. Einen Grund nannte er nicht, kündigte aber einen Auftritt für den 15. Jänner in Arizona an. Einige seiner Anhänger wollen gleichwohl am Abend ebenfalls eine Mahnwache abhalten.
Schweigeminute
Beide Kammern des US-Kongresses haben am Donnerstag mit einer Schweigeminute an die gewaltsame Attacke erinnert. Mitglieder des Repräsentantenhauses und des Senats hielten mit Blick auf den Gewaltausbruch vom 6. Jänner 2021 einen Moment inne.
Der ehemalige demokratische Präsident Jimmy Carter schrieb am Mittwoch in der New York Times, die USA stünden "am Rande eines sich weitenden Abgrunds". "Ohne sofortiges Handeln besteht die Gefahr eines zivilen Konflikts und des Verlusts unserer wertvollen Demokratie." Der Ex-Präsident forderte, Differenzen beizulegen und zusammenzuarbeiten - "bevor es zu spät ist".
Gespaltene USA
Auch ein Jahr nach seiner Amtsübernahme ist die Gesellschaft tief gespalten. Obwohl inzwischen Dutzende Gerichte, Wahlbehörden und auch Mitglieder der ehemaligen Trump-Regierung die Behauptungen vom angeblichen Wahlbetrug zurückgewiesen haben, sind rund 55 Prozent der republikanischen Wähler einer Umfrage der Nachrichtenagentur Reuters und des Meinungsforschungsinstituts Ipsos zufolge vom Gegenteil überzeugt.
Nach wie vor genießt Trump großen Einfluss in der Partei, was auch bei den anstehenden Kongresswahlen im November eine Rolle spielen dürfte. Bidens Demokraten müssen dann ihre knappen Mehrheiten im Repräsentantenhaus und im Senat verteidigen. Gelingt dies nicht, muss Biden in den dann verbleibenden zwei Jahren bis zur nächsten Präsidentenwahl 2024 gegen erheblich größere Widerstände im Parlament regieren.
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