US-Kongresswahlen: Die Angst vor einem Bürgerkrieg geht um
Zweieinhalb Wochen vor den Kongress-Wahlen, die über die politische Beinfreiheit von US-Präsident Joe Biden in der zweiten Amtshälfte und den realen Stellenwert seines potenziellen Wieder-Herausforderers für 2024, Donald Trump, entscheiden, geht im extrem polarisierten Amerika eine diffuse Angst um – die vor einem „Bürgerkrieg 2.0“.
Biden bezeichnet seinen Rivalen als „Halb-Faschisten“. Trump revanchiert sich mit „Staatsfeind“ und ruft seine Hardcore-Anhänger so vehement wie nie zuvor dazu auf, einer „korrupten und illegitimen Regierung“ (Stichwort: Wahlbetrug) die Stirn zu bieten und sich „das Land zurückzuholen“.
Hoher Verminungsgrad
Wie verfeindete Stämme stehen einander im Herbst 2022 zwei Amerikas gegenüber, die sich vorwiegend mit Verabscheuung und Hass begegnen.
Und die dabei Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung offenbar nicht mehr als unverletzliches Tabu ansehen.
Demoskopen und Gelehrte haben das Terrain vermessen und dabei in zahlreichen Umfragen einen hohen Verminungsgrad festgestellt. Rund 70 Prozent demokratischer wie republikanischer Wähler glauben, dass die US-Demokratie vor dem „Kollaps“ stehe. 50 Prozent in beiden Lagern sehen sich gegenseitig als „Feinde“.
40 Prozent der Republikaner und 20 Prozent der Demokraten halten Gewalt gegen „die da oben in Washington“ und politisch Andersdenkende für legitim.
„Unruhen auf Straßen“
Die vielleicht erschreckendste Zahl: 43 Prozent halten den Ausbruch eines Bürgerkrieges für wahrscheinlich, 22 Prozent sind sich unsicher. Nur 35 Prozent glauben, dass ein inner-amerikanisches Blutvergießen vermieden werden kann.
Als Sündenfall für die Eskalation wird die FBI-Visite in Trumps Florida-Domizil Mar-a-Lago herangezogen, bei der nach illegal aufbewahrten Staatsgeheimnissen gesucht wurde.
Sollte daraus eine strafrechtliche Anklage gegen Trump erwachsen und ein Prozess, wonach es zunehmend aussieht, prophezeien Weggefährten von Trump wie Senator Lindsey Graham „Unruhen auf den Straßen“. „Politisch motivierte Kriminalisierung“ ihrer Galionsfigur würden viele Trumpianer nicht tatenlos hinnehmen.
Schmuddelecke der sozialen Medien
Dass mehr als 50 Prozent der Amerikaner Trumps Umgang mit sensibelsten Dokumenten für prozesswürdig erachten, blendet Graham aus.
Der Politiker aus South Carolina nimmt mit seiner Prophezeiung Signale auf, die den Sicherheitsbehörden schon vor der richterlich genehmigten Razzia bei Trump am 8. August Sorgen bereitet hatten.
Denn in den Schmuddelecken der sozialen Medien rufen rechte Milizen, die Trump bereits bei der Erstürmung des Kapitols am 6. Jänner 2021 als eine Art Prätorianer dienten, offen dazu auf, sich mit Waffengewalt gegen eine als übergriffig empfundene Zentralregierung zu wehren.
Vereinzelt wurden bereits FBI-Niederlassungen im Land bedroht. In Ohio kam ein bewaffneter Trump-Fan dabei ums Leben.
Neu ist, dass republikanische Ultra-Radikale wie Marjorie Taylor Greene und Lauren Boebert den Hass auf Staat und (Biden-)Regierung als Abgeordnete ins Repräsentantenhaus tragen dürfen, ohne dass sie die eigene Parteispitze dabei bremst.
„Den Mob bestellen“
Sollte Justizminister Merrick Garland Anklage gegen den 45. US-Präsidenten erheben lassen, würde Trump nach Überzeugung von Analysten wie schon beim Sturm auf das Kapitol das tun, was die Washington Post so beschreibt: Er wird „den Mob bestellen.“
Wenn bei den „Midterm“-Wahlen am 8. November hie und da sehr enge Ergebnisse zu verzeichnen sein sollten und Trump-hörige Kandidaten und Kandidatinnen Betrugsvorwürfe vorbringen sollten, könne es ebenfalls „schnell überkochen“, sagen Insider im Heimatschutz-Ministerium.
Ränkespiele
Dass sich die seit Jahren zu beobachtende Entfremdung zwischen dem „blauen“ (demokratischen) und „roten“ (republikanischen) Amerika derart aufschaukeln konnte, geht aus Sicht von Forschern vor allem auf eine deformierte „Grand Old Party“ zurück.
Die GOP habe sich unter der informellen Regentschaft Trumps zu einer „extremistischen Kraft radikalisiert, die der verfassungsmäßigen Ordnung den Kampf angesagt hat“, meint Harvard-Professor Steve Levitsky.
Er führt die gesetzlich-strategischen Ränkespiele in vielen Bundesstaaten an, Trump 2024 gegebenenfalls mit der Brechstange zum Wahlsieg zu verhelfen, auch wenn er verlieren sollte.
Dass sich eine inner-amerikanische Konfrontation fundamental von der echten Bürgerkriegslage 1861 unterscheiden würde, als die Armeen von Nord- und Südstaaten wegen des Zankapfels Sklaverei einander massakrierten, liegt für Historiker wie Barbara Walter auf der Hand.
Die Professorin aus San Diego hat in ihrem Standardwerk „How Civil Wars Start: And How to Stop Them“ die Gefahr einer „dezentralen Aufstandsbewegung“ skizziert, die kritische Infrastruktur und Zivilisten ins Visier nimmt und sich wie eine Guerilla bei Anschlägen auch Bomben bedient, um den Staat zu schwächen.
„Politische Attentate“
Nina Silber, Bürgerkriegsexpertin der Uni Boston, hält die psychologische Facette für entscheidend. „Je mehr das Gerede über einen neuen Bürgerkrieg normalisiert wird und in den Mainstream einsickert, desto mehr wird Gewalt als unausweichlich gesehen.“
Ihr Historiker-Kollege Thomas Ricks sagt es so: „Ich bin besorgt über politische Attentate. Denn dazu braucht es nur eine geistesgestörte Person und eine Waffe – von beidem hat unser Land reichlich.“
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