Ungarns Problem mit der Ukraine – und umgekehrt
"Die Ukraine den Ukrainern, Ehre der Nation! Tod den Feinden, tötet die Ungarn!"
Drohungen wie diese erhielten zahlreiche in der Ukraine lebende Ungarn zu Beginn des Krieges. Wer dahinter steckt, lässt sich nicht sagen: Ukrainische Nationalisten, die die ungarische Bevölkerung vertreiben wollen? Russland-nahe Separatisten, die an einem neuen Brandherd zündeln? Oder die Ungarn selbst, die sich als Opfer darstellen wollen?
Gleichzeitig erntet Ungarn von allen Seiten Kritik aufgrund seiner Position im Krieg: Ungarn stellt sich gegen Öl- und Gas-Sanktionen gegen Russland, weigert sich, Waffenlieferungen durch Ungarn zu lassen. Dafür brechen mittlerweile selbst enge Verbündete wie die Polen und Slowenien weg.
Ungarns Beziehung zur Ukraine ist eine angespannte – und das nicht erst seit des russischen Angriffskrieges und der politischen Nähe Viktor Orbáns zu Kremlchef Wladimir Putin.
"Der Konflikt ist so alt wie der Nationalismus selbst", erklärt Erin K. Jenne von der Central European University (CEU), sie forscht zu ethnischen Minderheiten. "Es ist daher viel zu einfach, die Position Ungarns zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ausschließlich durch die Nähe Orbáns zu Putin zu erklären." Die Beziehung zwischen Budapest und Kiew sah Jenne vor Kriegsausbruch "auf einem historischen Tiefpunkt."
Das Trianon-Trauma
Seit 1920 existiert die ungarische Minderheit, einst in der Sowjetunion, heute in der Ukraine. Damals musste Ungarn im Vertrag von Trianon ein Drittel seiner Bevölkerung und zwei Drittel seiner Territorien abgeben. Unter Ministerpräsident Orbán ist das "Trianon-Trauma" zu einem wesentlichen Narrativ in der ungarischen Gesellschaft geworden – genauso wie die Auslandsungarn in Rumänien und Ungarn ins Zentrum seiner Innen- und Außenpolitik gerückt sind: "Orbán hat den Schutz der Rechte aller Ungarn, ganz gleich, wo sie leben, zur Pflicht des Staates erkoren", sagt Jenne.
Etwa 130.000 Ungarn lebten laut einer Volkserhebung 2018 in Transkarpatien (in der Westukraine) – etwas unter zwölf Prozent der Gesamtbevölkerung der Region. Heuer könnte die Zahl erstmals unter 100.000 fallen: Etwa 30.000 Ungarn sollen aufgrund des Krieges bisher aus der Ukraine geflüchtet sein. Darunter sollen auch viele Männer von ihrer ungarischen Staatsbürgerschaft Gebrauch gemacht haben, um der Einberufung zum Krieg zu entkommen.
Die Fidesz-Regierung erleichterte die Vergabe der ungarischen Staatsbürgerschaft, unterstützt die ungarische Minderheit finanziell und sichert sich dadurch Einfluss, lautet der Vorwurf von Kiew. "Die ungarische Minderheit wird deswegen als feindlicher, illoyaler Teil der Bevölkerung gesehen", so die Wissenschaftlerin. Die Fronten verhärteten sich weiter, als die Ukraine 2017 ein Gesetz verabschiedete, das Ungarisch als Unterrichtssprache ab der fünften Klasse verbot. Ungarn sah das als Angriff auf die eigene Nationalität, blockierte im Gegenzug die Zusammenarbeit der Ukraine mit der NATO.
Hilfe in der Not
Immer wieder kommt es zu Anschlägen in der Region – ob Ukrainer, Russen oder Ungarn selbst dahinterstecken, ist oft nicht eindeutig. Kiew wiederum beschuldigte Budapest, die ukrainischen Kommunalwahlen 2020 beeinflusst und sich in innere Angelegenheiten eingemischt zu haben.
Trotz aller Konflikte, berichten Hilfsorganisationen in Budapest und Transkarpatien, sei die Hilfsbereitschaft der ungarischen Zivilbevölkerung gegenüber den Flüchtlingen groß: Rund 600.000 sind mittlerweile nach Ungarn gekommen. Von diesen haben allerdings lediglich 16.400 Geflüchtete einen Antrag auf Asyl gestellt, der Großteil der Menschen ist bereits weitergereist.
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