Orbán peitscht "Knebelung" der Verfassungsrichter durch
Bereits im Dezember 2011 versuchte die rechtskonservative Regierung von Premier Viktor Orbán, Obdachlose zu bestrafen – zur Sicherung menschlicher Wohnbedingungen für Ungarns Bürger, wie es damals schon hieß: Werden sie zum zweiten Mal beim Campieren auf der Straße erwischt, droht eine Geldbuße von umgerechnet bis zu 500 Euro oder Haft. Nur das Veto der Verfassungsrichter brachte das Vorhaben zu Fall – das höchste Gericht kassierte das umstrittene Gesetz.
Nun folgte der Gegenschlag der Regierungspartei Fidesz-MPSZ, die in Grundrechtefragen im Dauerclinch mit der Europäischen Union liegt. Zum vierten Mal änderte sie mit bequemer Zweidrittel-Mehrheit die Verfassung.
Richter beschnitten
Die 265 Abgeordneten aus Orbáns Partei stimmten am Montagabend für die Novelle – das reichte für die nötige Mehrheit. Somit können die Kompetenzen der Verfassungsrichter beschnitten werden: Diese können sich nun nicht mehr auf Erkenntnisse von früher berufen. Das Gericht darf nun auch Parlamentsbeschlüsse über weitere Verfassungsänderungen nicht mehr inhaltlich prüfen. Die Novelle verankert nun auch Bestimmungen, die der Verfassungsgerichtshof zuvor als grundrechtswidrig erklärt hatte.
Darunter ist etwa auch die Möglichkeit, Wahlwerbung in privaten Medien zu verbieten sowie die Zuerkennung des Kirchenstatus durch die Regierung.
Kritiker werfen Orbán vor, mit der Verfassungsänderung die Machtbasis seiner Partei dauerhaft festigen zu wollen. Sie befürchten durch die Neuerungen nicht nur eine Einschränkung der Justiz, auch die Freiheit der Universitäten scheint ihnen bedroht. Denn die Regierung kann künftig Wirtschaftsdirektoren auf Unis einsetzen und so die Finanzautonomie aufheben. Zudem können Absolventen, deren Studium vom Staat finanziert wurde, gezwungen werden, für eine gewisse Zeit in Ungarn zu bleiben – als Gleichgewicht von Rechten und Pflichten.
Protest
Bei Orbáns Kritikern schrillen wie so oft die Alarmglocken. Tausende kamen in Budapest am Montag wieder zu Demonstrationen zusammen. Die USA, die EU und der Europarat äußerten ebenfalls ihre Bedenken.
Ungarns Ex-Präsident Laszlo Solyom, der einst auch dem Verfassungsgericht vorstand, bezeichnete Viktor Orbáns Pläne als „Schlag gegen die Demokratie“. Nur mehr Präsident Janos Ader habe jetzt noch die Möglichkeit, die kontroverse Novelle mit seinem Veto zu stoppen.
Die Novelle beinhaltet unter anderen folgende Bestimmungen:
- Einschränkung der Befugnisse des Verfassungsgerichts. Die Höchstrichter dürfen Verfassungsänderungen und -zusätze künftig nur noch verfahrensrechtlich, nicht mehr inhaltlich prüfen. Darüber hinaus ist es ihnen verwehrt, sich auf die eigene Spruchpraxis aus der Zeit vor Inkrafttreten der derzeitigen Verfassung im Jänner 2012 zu berufen.
- Vollmacht für die vom Ministerpräsidenten ernannte Leiterin des Nationalen Justizamtes, bestimmte Fälle bestimmten Gerichten zuzuweisen.
- Möglichkeit, Wahlwerbung in privaten Medien zu verbieten.
- Kriminalisierbarkeit von Obdachlosen. Sie können ins Gefängnis kommen, wenn sie auf der Straße übernachten.
- Möglichkeit, dass die Regierungsmehrheit im Parlament willkürlich über die Zuerkennung den Status religiöser Gemeinschaften als Kirchen entscheidet.
- Einengung des von der Verfassung gewährten Schutzes der Familie auf Mann und Frau, die miteinander verheiratet sind und Kinder großziehen.
- Aufhebung der Finanzautonomie der Universitäten durch von der Regierung eingesetzte Wirtschaftsdirektoren ("Kanzler").
- Möglichkeit, Universitätsabgänger, die ohne Studiengebühren studiert haben, auf das Bleiben in Ungarn zu verpflichten.
Diese harten Sanktionen sieht das EU-Recht als letztes Mittel bei schweren und anhaltenden Verletzungen der Grundwerte der EU vor. Der sogenannte Artikel 7 regelt die mühsame und langwierige Vorgehensweise gegen ein Land, das Prinzipien der EU missachtet.
Derzeit gibt es jedenfalls noch keinen Antrag, das Procedere gegen Ungarn einzuleiten. Die Europäische Kommission, das EU-Parlament und einzelne Regierungen sorgen sich dennoch über ständige Versuche Ungarns, EU-Recht zu unterlaufen. Gegen das Orbán-Regime führte die EU bereits Vertragsverletzungsverfahren (Mediengesetz, Datenschutz, Richter-Zwangspensionierungen, Notenbank-Gesetz). Das hatte zur Folge, dass Gesetze im nachhinein an EU-Standards angepasst wurden.
Jetzt verlangen die Außenminister von Deutschland, Finnland, Dänemark und den Niederlanden von der EU-Kommission, Instrumente zu schaffen, um frühzeitig bei Defiziten im Justizwesen oder bei Verstößen gegen die Grundwerte Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gegen eine Regierung vorgehen zu können. Gedacht ist dabei an ein Frühwarnsystem für Artikel 7, an einen Mechanismus, um Reformen mit dem betroffenen Staat zu vereinbaren. An eine Änderung der EU-Verträge ist derzeit nicht gedacht.
Es sei „nicht zum ersten Mal, dass wir da und dort bei der Gesetzgebung in Ungarn europarechtliche und nachbarschaftliche Bedenken haben“, sagte Außenminister Spindelegger vor dem EU-Außenministerrat am Montag in Brüssel. Er forderte im Zuge dessen die Ungarische Regierung auf, „Klarheit zu schaffen“.
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