Es gibt aber auffällig viele Streitpunkte zwischen Brüssel und Budapest – zum Beispiel die Rechtsstaatlichkeit Ungarns. Wie lange dauert es noch, bis Ungarn alle Kriterien zum Erhalt der eingefrorenen EU-Gelder (22 Milliarden Euro) erfüllt?
Das Verfahren gegen Ungarn hätte schon längst eingestellt werden müssen. Unserer Meinung nach gibt es für den Rechtsstaatsmechanismus keine Rechtsgrundlage. Das ist ein politisch motiviertes Verfahren gegen Ungarn. Trotzdem reagieren wir konstruktiv, weil wir glauben, dass die EU in der gegenwärtigen geopolitischen Situation Einigkeit demonstrieren sollte. Wir erwarten, dass die EU dieses Commitment teilt, tut sie aber nicht.
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Wenn Sie die europäische Einheit so betonen, warum hat Ungarn ein Veto gegen EU-Beitrittsgespräche mit der Ukraine angekündigt?
Ich weiß nicht, was das mit Einheit zu tun hat. Wir haben eine Empfehlung am Tisch, die den Standpunkt der Kommission beschreibt. Nach meinem Verständnis bedeutet europäische Einheit nicht, die Position der Kommission zu übernehmen, sondern einen einstimmigen Konsens der 27 Mitgliedstaaten zu erreichen. Im Vorschlag der Kommission stehen sieben Vorbedingungen für die Gewährung des Kandidatenstatus an die Ukraine. Nicht alle sind bisher erfüllt. Erst wenn das der Fall ist, sollte der Rat die nächsten Schritte im Erweiterungsprozess tun. Zuvor aber brauchen wir eine strategische Diskussion über die Ukraine-Politik der Europäischen Union: Wie soll die europäische Sicherheitsarchitektur aussehen? Wenn wir diese Diskussion geführt haben, können wir auf die Frage zurückkommen.
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Stellt sich Ungarn gegen Gespräche mit der Ukraine, um Russland nicht zu verärgern?
Nein. Wir müssen über die europäische Sicherheitsarchitektur sprechen, und damit auch über Russland. Die EU und die europäischen Mitgliedsstaaten brauchen eine Beziehung zu Russland. Aber ich glaube nicht, dass diese von der Beziehung zwischen der Ukraine und Russland abhängen sollte.
Warum ist Ungarn auch gegen die EU-Asylreform? Will man lieber weiterhin Migranten nach Österreich durchwinken?
Ungarns Position beruht auf dem Schutz der EU-Außengrenze und der Einrichtung eines externen Asylantragsverfahrens. Seit 2015 haben wir 1,6 Milliarden Euro für unseren Außengrenzschutz zu Serbien ausgegeben, wovon die EU bisher 1,2 Prozent erstattet hat. Wir haben mehrfach versucht, einen Rechtsrahmen für die Bearbeitung von Asylanträgen außerhalb der EU zu schaffen. Der Europäische Gerichtshof hat diesen für ungültig erklärt. Ich möchte aber klarstellen: Ungarn schickt keine Migranten nach Österreich.
Warum gab es dann heuer nur 26 Asylanträge in Ungarn, über 40.000 in Österreich und über 280.000 in Deutschland?
Ich nenne Ihnen eine andere Zahl: Ungarn hat seit dem 1. Januar dieses Jahres 170.000 illegale Grenzübertritte an der ungarisch-serbischen Grenze verhindert. Wir kooperieren mit Österreich an der österreichisch-ungarischen Grenze, mit Österreich und Serbien an der serbisch-ungarischen Grenze und an Serbiens Grenze zu Nordmazedonien. Wir tun unser Bestes, um illegale Grenzübertritte zu verhindern.
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Wie beurteilen Sie Ungarns aktuelle Beziehung zu Polen – dort könnte der pro-europäische, liberale Donald Tusk Ministerpräsident werden. Droht damit, die Visegrad-Gruppe zu zerbröseln?
Die ungarische Regierung respektiert die demokratische Entscheidung der polnischen Bevölkerung. Die Visegrad-Zusammenarbeit beruht auf einer gemeinsamen Geschichte und Kultur, gemeinsamen Werten und gemeinsamen strategischen Interessen. Historisch gesehen war es sehr selten, dass alle Regierungen aus derselben politischen Familie stammten. In der Vergangenheit haben wir Differenzen immer erfolgreich bewältigt, das wird sich auch nicht ändern.
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Im Nahostkonflikt steht Ungarn klar auf der Seite Israels – während im Land antisemitische Kampagnen gegen den jüdischen US-Investor George Soros gefahren werden? Wie geht das?
Diese Behauptung weise ich entschieden zurück. Ungarn ist eines der sichersten Länder für jüdische Communitys in Europa. Die Position Ungarns zum Krieg in Gaza deckt sich mit dem europäischen Konsens. Die Staaten, die Terrorismus bekämpfen, müssen das Recht haben, sich selbst zu schützen. Die Geiseln müssen bedingungslos und sofort freigelassen werden sollten. Die Europäische Union sollte alles möglich versuchen, um eine Eskalation im Nahen Osten zu verhindern.
Wie würden Sie die Anti-Soros-Kampagne der Regierung dann nennen?
Es ist eine Kampagne, die der Öffentlichkeit eine relevante Frage zur Diskussion stellt. Das ist ein Manifest der Meinungsfreiheit.
Gibt es Antisemitismus in Ungarn?
In Ungarn gibt es, wie überall in Europa, antisemitische Menschen. Die ungarische Regierung leistet vorbildliche Arbeit, wenn es darum geht, Antisemitismus zu bekämpfen, die jüdischen Communitys zu schützen und eine Partnerschaft mit Israel auf Augenhöhe zu pflegen.
Halten Sie es für problematisch, dass es nach dem Abgang von Ihrer Vorgängerin, Judit Varga, keine Frau mehr in der Regierung gibt?
Es ist die Verantwortung des Premierministers, die Mitglieder der Regierung nach ihren politischen Kompetenzen auszuwählen. Und ich denke, sein Erfolg und seine politische Karriere stellen unter Beweis, dass er das sehr gut macht.
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