Moskaus Atomdrohung: Ein Bluff – oder mehr?
Die Schlagzeilen klangen dramatisch. Es bestehe die „reale Gefahr“ eines Atomkriegs, hat Russlands Außenminister Sergej Lawrow Montagabend in einem Interview im russischen Fernsehen gesagt. „Wir dürfen die Gefahr nicht unterschätzen“, so seine Worte.
Ist das eine unverhohlene Drohung? Oder nur Taktik?
Hört man genauer hin, so steckt hinter Lawrows Aussage lediglich Kalkül. Zum einen bringt Moskau nicht zum ersten Mal Nuklearwaffen ins Spiel, zum anderen gab es von Putin schon „wesentlich deutlichere Äußerungen, die als Drohung aufgefasst werden können“, wie Osteuropa-Experte Alexander Dubowy sagt. Das gehöre zum klassischen Repertoire der Kriegsführung – und folge auch der russischen Nukleardoktrin, die den Einsatz von Atomwaffen regelt. Sie sieht vor, dass der rote Knopf nur dann gedrückt werden könne, „wenn die Existenz Russlands bedroht ist.“
"Putin steht mit Rücken zur Wand"
Lawrows Aussage zeige hingegen eines ganz deutlich: „Putin steht mit dem Rücken zur Wand“, sagt Dubowy. Die Offensive im Donbass komme nicht wunschgemäß voran, doch der Kremlchef „braucht einen Sieg“, und sei es noch so ein geringer Erfolg.
Die Absicht hinter der Atomkarte sei demnach schlicht Abschreckung. Moskau folge dem Motto „eskalieren, um zu deeskalieren“, sagt Dubowy – der Westen solle eingeschüchtert werden, von der Lieferung weiterer schwerer Waffen absehen. „Ein Atomwaffenangriff ist darum derzeit wenig wahrscheinlich. Nicht unwahrscheinlich, aber wenig wahrscheinlich“, sagt der Experte.
Faktor China
Auch im Verteidigungsministerium sieht man das so. Dafür sprechen laut Strategen zwei – freilich zynische – Argumente: Das eine heißt China. „Peking ist viel daran gelegen, dass der Ukraine-Konflikt politisch und militärisch nicht noch weiter eskaliert. Das würde er aber jedenfalls tun, wenn Russland taktische Atomwaffen einsetzte – das wäre ein weiterer politischer Tabubruch.“ Anders gesagt: Sollte Moskau Atomwaffen einsetzen, könnte sich China als der große Unterstützer Putins von Moskau abwenden – und das müsse Putin verhindern. Das andere Argument: Russland habe abgesehen von Atomwaffen noch die Option von biologischen und chemischen Waffen. Und diese würde man zuvor wohl ziehen. Warum? „Weil man das auch in Syrien gemacht hat“, so ein hochrangiger Offizier.
Der Westen dürfe sich von diesen Drohungen aber nicht abschrecken lassen, sagt Alexander Dubowy. „Je besser die ukrainischen Kräfte kämpfen, desto geringer ist der Preis, den die Ukraine und der Westen werden zahlen müssen.“ Seine These: Je schlechter es für Putin in der Ukraine laufe, desto mehr Unterstützung brauche er innenpolitisch von den Eliten, die ihn stützen – und das wiederum mache es für ihn schwerer, einfach so den Roten Knopf zu drücken.
Guterres bei Putin
Moskau werde darum weiter nach einer Verhandlungslösung suchen, sagt Dubowy. Das hat Sergej Lawrow am Tag nach seinem TV-Auftritt auch bestätigt. Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit UN-Generalsekretär Antonio Guterres in Moskau warf er Kiew zwar erneut vor, die Verhandlungen zu torpedieren, signalisierte aber zeitgleich Diskussionsbereitschaft. Auch auf eine trilaterale Kontaktgruppe zur Etablierung von humanitären Korridoren einigten sich die beiden.
Guterres’ Kritik an Moskaus Angriffskrieg und seine Forderung nach einer schnellen Waffenruhe verhallten dabei aber. Das wird wohl bei seinem Treffen mit Wladimir Putin, das dem Gespräch mit Lawrow folgte, ähnlich gewesen sein – allein: Diese Unterredung lief ohne Kameras und Pressekonferenz ab. Ob das auf Putins oder Guterres’ Wunsch geschah, ist nicht bekannt.
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