Wie russische Kriegflüchtlinge Georgiens Wirtschaft ankurbeln
Während Europa wegen der Folgen des russischen Krieges gegen die Ukraine in der Rezession zu versinken droht, erlebt ein Land einen unerwarteten Wirtschaftsboom: Georgien. Russlands Nachbar ist auf dem besten Weg, in diesem Jahr zu einer der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt zu werden.
Grund dafür ist der enorme Zustrom von mehr als 100.000 Russen, die seit Russlands Einmarsch in der Ukraine und der von Präsident Wladimir Putins angeordneten Mobilmachung geflüchtet sind.
Die Wirtschaft in dem 3,7 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner zählenden Land am Schwarzen Meer dürfte internationalen Organisationen zufolge in diesem Jahr um zehn Prozent wachsen. Besonders der private Konsum soll zum Konjunkturmotor werden. Damit würde die nur bescheidene 19 Milliarden Euro große Volkswirtschaft - die für ihre Berge, Wälder und Weintäler bekannt ist - aufstrebende Schwellenländer wie Vietnam oder von hohen Energiepreisen profitierend Ölexporteure wie Kuwait hinter sich lassen.
„Wirtschaftlich geht es Georgien sehr gut“, sagt Wachtang Buzchrikidse, Vorstandschef von TBC, der größten Bank des Landes. „Es gibt eine Art Boom“, fügt er in dem Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters hinzu. „Allen Branchen geht es sehr gut, von den Kleinstunternehmen bis zu den Konzernen. Ich kann mir keine Branche vorstellen, die in diesem Jahr Probleme hat.“
Russen kamen in zwei Wellen
Mindestens 112.000 Russen sind in diesem Jahr nach Georgien ausgewandert, wie aus offiziellen Statistiken hervorgeht. Eine erste große Welle von 43.000 kam nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar und Putins Maßnahmen zur Unterdrückung der Opposition gegen den Krieg im eigenen Land, so die georgische Regierung. Eine zweite Welle folgte, nachdem Putin Ende September die landesweite Mobilmachung angekündigt hatte.
Preise steigen
Der wirtschaftliche Aufschwung Georgiens hat viele Experten überrascht. Sie haben mit schlimmen Folgen des Krieges für die ehemalige Sowjetrepublik gerechnet, die wirtschaftlich durch Exporte und Tourismus immer noch eng mit dem weit größeren Nachbarn Russland verbunden ist. Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) etwa sagte im März voraus, dass der Ukraine-Konflikt der georgischen Wirtschaft einen schweren Schlag versetzen werde. Auch die Weltbank prognostizierte im April, dass das Wachstum des Landes 2022 von ursprünglich geschätzten 5,5 auf 2,5 Prozent sinken dürfte.
„Trotz aller Erwartungen, dass dieser Krieg in der Ukraine erhebliche negative Auswirkungen auf die georgische Wirtschaft haben wird, sehen wir bisher keine Verwirklichung dieser Risiken“, betont Ökonom Dimitar Bogow, der bei der EBRD für Osteuropa und den Kaukasus zuständig ist. „Im Gegenteil: Wir sehen, dass die georgische Wirtschaft in diesem Jahr recht gut wächst, zweistellig.“
Allerdings kommt das fulminante Wachstum nicht allen Einheimischen zugute. Denn die Ankunft Zehntausender Russen, darunter viele Tech-Profis mit viel Geld, treibt die Preise in die Höhe. Auch werden einige Georgier aus Teilen der Wirtschaft wie dem Wohnungsmarkt und dem Bildungswesen verdrängt. Experten befürchten außerdem, dass dem Land eine harte Landung bevorstehen könnte, wenn der Krieg endet und die Russen nach Hause zurückkehren.
Geldtransfers
Georgien selbst führte 2008 einen kurzen Krieg mit Russland um Südossetien und Abchasien - Gebiete, die von den von Russland unterstützten Separatisten kontrolliert werden. Heute profitiert die georgische Wirtschaft jedoch von der Nähe zur Supermacht und einer liberalen Einwanderungspolitik. Diese ermöglicht es Russen und Menschen aus vielen anderen Staaten, im Land zu leben, zu arbeiten und Unternehmen zu gründen, ohne ein Visum zu benötigen.
Nach Angaben der georgischen Zentralbank überwiesen Russen zwischen April und September über Banken oder Geldtransferdienste mehr als eine Milliarde Euro nach Georgien. Das ist fünfmal mehr als im gleichen Zeitraum des Jahres 2021. Dieser Zustrom hat dazu beigetragen, die Landeswährung Lari auf den höchsten Stand seit drei Jahren zu treiben.
Etwa die Hälfte der russischen Neuankömmlinge kommt aus dem Technologiesektor, wie TBC-Manager Buzchrikidse und lokale Medien berichten. Dies deckt sich mit Umfragen und Schätzungen von Branchenvertretern in Russland, die auf einen Exodus Zehntausender hochmobiler IT-Fachkräfte nach dem Einmarsch in die Ukraine hinweisen. „Das sind Spitzenleute, reiche Leute ..., die mit einigen Geschäftsideen nach Georgien kommen und den Konsum drastisch steigern“, erklärt Forscher Dawit Keschelawa von der International School of Economics der Staatlichen Universität Tiflis (ISET). „Wir hatten erwartet, dass der Krieg viele negative Auswirkungen haben würde“, fügt er hinzu. „Aber es kam ganz anders. Er erwies sich als positiv."
Wohnungsmarkt: "Russen zahlen mehr"
"Nirgendwo werden die Folgen durch die vielen Neuankömmlinge deutlicher als auf dem Wohnungsmarkt der Hauptstadt. Dort verschärft die erhöhte Nachfrage die Spannungen. Einer Analyse der TBC-Bank zufolge sind die Mieten in Tiflis in diesem Jahr um 75 Prozent gestiegen. Geringverdiener und Studenten können sich die höheren Mieten kaum noch leisten.
Die 19-jährige Georgierin Nana Schonia hatte nur wenige Wochen vor dem Einmarsch Russlands einen Zweijahresvertrag für eine Wohnung im Stadtzentrum für umgerechnet rund 150 Euro pro Monat abgeschlossen. Im Juli wurde sie von ihrem Vermieter vor die Tür gesetzt und musste in ein raues Viertel am Rande der Stadt zu ziehen. „Früher brauchte ich zehn Minuten zur Arbeit. Jetzt sind es mindestens 40 Minuten, ich muss den Bus und die U-Bahn nehmen und stehe oft im Stau“, klagt sie.
Helen Jose, eine 21-jährige Medizinstudentin aus Indien, wohnt seit einem Monat bei einer Freundin, nachdem sich ihre Miete während der Sommerpause verdoppelt hat. „Vorher war es sehr einfach, eine Wohnung zu finden. Aber vielen meiner Freunde wurde gesagt, sie sollen gehen, weil es Russen gibt, die mehr zahlen als wir“, sagt sie. Aus den Universitäten wird berichtet, dass eine große Zahl von Studierenden ihr Studium in Tiflis aufschiebt, weil sie sich keine Wohnung in der Stadt leisten können.
TBC-Chef Buzchrikidse sieht hingegen in den Neuankömmlingen das Potenzial, Qualifikationslücken in der georgischen Wirtschaft zu schließen. „Sie sind sehr jung, haben eine technologische Ausbildung und verfügen über Wissen - für uns und andere georgische Unternehmen ist dies eine sehr nützliche Gelegenheit“, sagt er. „Eine zentrale Herausforderung für uns ist die Technologie. Und in diesem Bereich konkurrieren wir leider mit High-Tech-Unternehmen in den Vereinigten Staaten und Europa“, fügt er hinzu. „Um einen schnellen Erfolg zu erzielen, sind diese Migranten sehr hilfreich.“
Sorgen um negative Kriegsfolgen
Dennoch machen sich Ökonomen und Unternehmen Sorgen über mögliche negative Folgen des Krieges. „Wir bauen unsere Zukunftspläne nicht auf den Neuankömmlingen auf“, sagt Schio Chetsuriani, der Chef von Archi, einem der größten georgischen Immobilienentwicklern. Auch wenn die Mietpreise in die Höhe schießen, seien die Unternehmen nicht daran interessiert, zu viel in den Wohnungsmarkt zu investieren, zumal die Preise für Materialien und Ausrüstung steigen. Während die Vermieter von den steigenden Mieten profitierten, hätten sich die Gewinnspannen bei den Wohnungsverkäufen kaum verändert, sagt er.
Ökonomen warnen davor, dass der Boom nicht von Dauer sein könnte. Sie empfehlen der georgischen Regierung, die steigenden Steuereinnahmen dazu zu nutzen, um Schulden zu tilgen und Devisenreserven aufzubauen, solange es noch geht. „Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass all diese Faktoren, die das Wachstum in diesem Jahr ankurbeln, vorübergehend sind und kein nachhaltiges Wachstum in den folgenden Jahren garantieren, daher ist Vorsicht geboten“, sagt Experte Bogow von der EBRD. „Die Unsicherheit ist immer noch da, und die Krise könnte Georgien mit Verzögerung treffen.“
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