Ukraine beklagt Mangel an schwerer Artillerie

Ukraine beklagt Mangel an schwerer Artillerie
Sjewjerodonezk ist nach wie vor hart umkämpft. Die Ukraine braucht schwere Waffen.

Tag 107 nach dem russischen Angriff auf die Ukraine: 

In Sjewjerodonezk halten die schweren Bodenkämpfe auch am Freitag unvermindert an. Die Industriestadt im Osten des Landes gilt für den Kriegsverlauf als strategisch wichtig. Hier werde sich das Schicksal des Donbass "in erheblichem Maße" entscheiden, meinte der ukrainische Präsident Selenskij vor wenigen Tagen.

Die ukrainischen Verteidiger hielten nach eigenen Angaben auch am Freitag den russischen Angriffen Stand. Was den Ukrainern eigener Aussage nach fehlt, ist schwere, weitreichende Artillerie, mit der russische Angriffe aufgehalten werden können. 

Ihre Stellungen würden Tag und Nacht beschossen, teilten ukrainische Vertreter mit. Der Kommandant des ukrainischen Swoboda-Bataillons der Nationalgarde, Petro Kusyk, erklärte, dass die ukrainischen Truppen in Straßenkämpfen versuchten, den russischen Vorteil bei der Artillerie wettzumachen.

Die ukrainischen Truppen litten aber unter einem "katastrophalen" Mangel an Artillerie-Geschützen. Die Beschaffung solcher Waffen würde die Lage auf dem Schlachtfeld verändern. Angaben aus den Kampfgebieten können kaum unabhängig überprüft werden.

Russische Streitkräfte konnten bis zum Verkehrsknotenpunkt Bachmut südwestlich von Sjewjerodonezk vorrücken. Durch den Vormarsch der Russen auf den Straßen- und Bahnknoten Bachmut könnte der Nachschub für das Verwaltungszentrum Sjewjerodonezk abgeschnitten werden.

"Der Feind hat in Richtung Wosdwyschenka - Roty angegriffen, teilweise Erfolg gehabt und setzt sich an den eingenommenen Stellungen fest", teilte der ukrainische Generalstab am Freitag in seinem Lagebericht mit.

Erhebliche Verluste auf russischer Seite

Die russischen Truppen erleiden zufolge beim Kampf um Sjewjerodonezk erhebliche Verluste. "Die Russen haben wesentlich mehr Verluste als die Ukrainer", postete der Luhansker Gouverneur Serhij Hajdaj am Donnerstag auf Facebook.

Das Verhältnis liege "bei eins zu zehn". Die russische Armee habe die Überreste von Einheiten aus der Teilrepublik Burjatien im Fernen Osten Russlands abgezogen, meinte Hajdaj.

"Sie sterben wie die Fliegen." Zu ukrainischen Verlusten könne er keine Angaben machen, betonte Hajdaj. Russische Kräfte hatten in der vergangenen Woche den Großteil der Industriestadt erobert.

Die Ukrainer mussten sich in das Industriegebiet und in die benachbarte Zwillingsstadt Lyssytschansk zurückziehen. In dem seit Ende Februar laufenden Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine haben russische Truppen mittlerweile mehr als 90 Prozent des Gebiets Luhansk unter ihre Kontrolle gebracht.

Zuvor hatten russische Truppen ihre Angriffe auf Wohn- und Industriegebiete in Sjewjerodonezk fortgesetzt. Durch den Beschuss der Chemiefabrik Azot seien vier Menschen getötet worden, schrieb Hajdaj auf Telegram. Die Anlage wird nach ukrainischen Angaben von Hunderten Zivilisten als Luftschutzbunker genutzt.

Auch die Eisarena, laut Haidai eines der Symbole von Sjewjerodonezk, wurde zerstört. "Sie haben das Gebäude mit Granaten beschossen", postet Haidai gemeinsam mit einem Bild von schwelenden Ruinen des Gebäudes.

Eine vergleichbare Einkesselung durch russische Truppen wie bis vor Kurzem in der Hafenstadt Mariupol drohe derzeit jedoch nicht.

Kampf um Cherson

Die ukrainische Armee hat nach eigenen Angaben russische Stellungen in der Region Cherson im Süden der Ukraine angegriffen. Die Luftwaffe habe Angriffe auf Standorte mit Ausrüstung und Personal sowie Felddepots in der Nähe von fünf Ortschaften in der Region geflogen, teilte der Generalstab der ukrainischen Armee am Freitag auf Facebook mit.

Die Region Cherson wird seit den ersten Tagen der russischen Invasion nahezu vollständig von russischen Truppen kontrolliert. Kiew befürchtet, dass Moskau dort demnächst ein Referendum nach dem Vorbild der 2014 annektierten Krim über einen Anschluss an Russland abhalten könnte. Die Ukraine hat eine Offensive zur Rückeroberung des Gebiets gestartet. Die militärische Lage dort bleibe "angespannt", teilte das ukrainische Präsidialamt am Freitag mit.
 

In der Stadt Stachanow im ostukrainischen Separatistengebiet Luhansk sollen mindestens 13 Menschen durch Raketenwerferbeschuss seitens der Ukraine getötet worden sein. "Es sind etwa 20 Raketen des Typs Uragan eingeschlagen", teilte Republikchef Leonid Passetschnik russischen Medien zufolge mit.

Zudem seien mindestens sechs Verletzte aus den Trümmern geborgen worden. Die moskautreuen Separatisten warfen der ukrainischen Armee vor, ein Wohngebiet beschossen zu haben. Ukrainische Stellungen befinden sich in etwa zwölf Kilometer Entfernung von der Industriestadt.

Selenskij: Im Osten nichts Neues

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij sieht die Lage seines Landes im Krieg gegen die russischen Angreifer weiter als kompliziert. Auf dem Schlachtfeld im Osten des Landes stemme sich die Armee mutig gegen den Feind, sagte er und warb für eine weitere Annäherung der EU an sein Land. Unterdessen stellte Kremlchef Wladimir Putin in Moskau den von ihm befohlenen Waffengang gegen die Ukraine auf eine Ebene mit dem Großen Nordischen Krieg unter Zar Peter dem Großen.

Die Situation an der Front sei "ohne wesentliche Änderungen", sagte Selenskij am Donnerstag in einer Videobotschaft. Der strategisch wichtige Ort Sjewjerodonezk und seine Nachbarstadt Lyssytschansk sowie andere Städte im Donbass, die russische Angreifer derzeit als Schlüsselziele im Osten des Landes betrachteten, könnten sich wirksam verteidigen. 

Gute Nachricht vermeldete Selenskij aus der südöstlichen Region Saporischschja. Dort sei es ukrainischen Streitkräften gelungen, russische Truppen abzuwehren. Außerdem rücke das ukrainische Militär in der Region Charkiw vor.

An der Front

Laut dem ukrainischen Verteidigungsminister Olexij Resnikow ist die Lage an der Front schwierig. "Jeden Tag werden bis zu 100 unserer Soldaten getötet und bis zu 500 verwundet", schrieb Resnikow bei Facebook. Russland erleide zwar große Verluste. "Aber es gibt immer noch Kräfte, die in einigen Teilen der Front vorrücken", betonte er.

Die Ukraine brauche dringend schwere Waffen. "Wir haben bewiesen, dass wir im Gegensatz zu vielen anderen den Kreml nicht fürchten. Aber als Land können wir es uns nicht leisten, unsere besten Söhne und Töchter zu verlieren." Präsidentenberater Mychajlo Podoljak sprach gar von 100 bis 200 Toten täglich.

Weitere Waffen aus Frankreich zugesagt

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sicherte der Ukraine zu, bei Bedarf weitere schwere Waffen zu liefern. In einem Telefonat mit Selenskij habe Macron betont, dass sein Land weiter an der Seite der Ukraine stehe, teilte der Élyséepalast mit. Macron habe Selenskij nach Bedürfnissen in Bezug auf militärische Ausrüstung, politische und finanzielle Unterstützung sowie humanitäre Hilfe gefragt.

Die Ukraine hat noch keine Auskunft aus Deutschland, wann ihr die jüngst von der Bundesregierung zugesagten Waffen zum Abwehrkampf gegen Russland geliefert werden. Es gebe bisher keine Klarheit, wann die Mehrfachraketenwerfer Mars aus Beständen der Bundeswehr übergeben werden, sagte der Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, dem "Tagesspiegel" (Online). "Wir erwarten, dass die Ampel dieses Versprechen zügig erfüllt, weil unsere Truppen dieses Waffensystem am dringlichsten brauchen, um die ukrainische Zivilbevölkerung vor barbarischen Angriffen Russlands zu schützen."

Putin-Vergleich mit Zar Peter I

Kremlchef Wladimir Putin hat den von ihm befohlenen Krieg gegen die Ukraine auf eine Ebene mit dem Großen Nordischen Krieg unter Russlands Zar Peter I. gestellt und von einer Rückholaktion russischer Erde gesprochen. Peter habe das Gebiet um die heutige Millionenstadt St. Petersburg nicht von den Schweden erobert, sondern zurückgewonnen. "Offenbar ist es auch unser Los: Zurückzuholen und zu stärken", zog Putin der Agentur Interfax zufolge Parallelen zum Krieg gegen die Ukraine. Am 9. Juni ist der 350. Geburtstag von Peter dem Großen, der sich als erster russischer Zar den Titel "Imperator" gab.

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