Wen Putin zu Kanonenfutter macht

"Ist Dir aufgefallen, dass Du nicht mit Blumen, sondern mit Granaten und Flüchen empfangen wirst? Dass Deine Kommandanten immer als erste weglaufen? Dann nimmt Kontakt mit uns auf – und rette Dein Leben.“
Mit Sprüchen wie diesen versucht Kiew jetzt, die von Moralproblemen geplagte russische Armee weiter zu schwächen: Sie ruft die Mobilisierten zum Desertieren auf. Wer nicht kämpfen will, kann per Whatsapp, Telegram oder SMS seinen Standort durchgeben und wird von einer Drohne in Richtung unbesetztes Territorium eskortiert. Das Versprechen: eine Behandlung nach der Genfer Konvention, drei Mahlzeiten täglich und medizinische Versorgung.
Schuldzuweisungen
Im Kreml sorgen derlei Angebote für wenig Freude. Dort hat man nicht nur die Sperrung aller Kanäle des Deserteur-Programms verfügt, sondern unterstellt Kiew auch doppeltes Spiel: Jene russischen Soldaten, die in der Silvesternacht in Makijiwka nahe Donezk bei ukrainischem HIMARS-Beschuss ums Leben gekommen waren, hätten sich durch Handynutzung verraten, wird behauptet. Ein klares Ablenkungsmanöver vom eigenen Versagen, urteilen Beobachter. Der Angriff war nämlich bisher der blutigste für den Kreml, unter Hardlinern wird Kritik laut. 89 Opfer gab es, sagt Moskau, das sonst nie Zahlen mitteilt Kiew spricht gar von bis zu 400.
Ethnische Minderheiten überrepräsentiert
Dass die Gefallenen alle frisch Mobilisierte waren, sorgt für zusätzlichen Ärger. Viele der Eingezogenen stammten aus Samara, einer nicht gerade begüterten Region – das ist kein Zufall: Unter den etwa 500.000 bisher Mobilisierten sind überproportional viele Männer aus armen Regionen sowie Angehörige ethnischer Minderheiten aus dem Süden und Osten. Laut Recherchen der Plattformen Waschnie Istorii seien die armen und ethnisch diversen Regionen Kransojarsk, Sewastopol, Burjatien, Dagestan und Kalmykien hauptbetroffen; auch aus Transbaikalien nahe der Mongolei, aus den Regionen Amur, Chabarowsk und dem Jüdischen Autonome Gebiet an der chinesischen Grenze kommen überdurchschnittlich viele Soldaten. Am wenigsten Mobilisierte kommen hingegen aus dem reichen Moskau.
Das hat gute Gründe. Zum einen war das Militär in strukturschwachen Regionen schon immer großer Arbeitgeber – es war eine zwar unbeliebte, aber recht stabile Einkommensquelle. Zum anderen herrscht in Russland eine Form der Xenophobie, mit der sich politisches Kleingeld verdienen lässt. In Wohnungsannoncen etwa liest man oft den Zusatz „nur Slawen“ oder „nur Russen“.
Hardliner, die Putin vor sich hertreiben, sehen Minderheiten daher lieber an der Front als „autochthone Russen“, selbiges gilt für Straftäter, die für den Kriegsdienst freigelassen werden. Putin selbst sagte unlängst, es sei besser, „im Kampf für das Vaterland zu sterben als sich mit Wodka zu Tode zu saufen“ - ein Seitenhieb auf den hohen Alkoholkonsum in strukturschwachen Regionen. Kritiker unterstellen ihm gar, aufkeimende Nationalismen in den ethnisch diversen Regionen mit der Mobilisierung im Keim ersticken zu wollen.
Neue Offensive
Dass sich die Wut vieler gegen ihren Willen Mobilisierter auf den Straßen Moskaus entlädt, ist deshalb extrem unwahrscheinlich. Und in den betroffenen Regionen gab es zwar einen kurzen Aufschrei, der wurde aber von oben unterdrückt. Putin schadet das laut Umfragen nicht: Laut dem unabhängigen Institut „Lewada“ fielen seine Beliebtheitswerte nach Ankündigung der Teilmobilisierung von 83 auf 77 Prozent, mittlerweile liegen sie bei 81. Vor allem die chaotische und willkürliche Art der Mobilisierung habe die Gemüter erhitzt, analysiert der russische Polit-Experte Maxim Samorukov in Foreign Policy – etwa, dass auch Invalide oder Schwerkranke an die Front geschickt wurden. Laut der russischen Zeitung Kommersant soll das nun geändert werden: Bis April 2024 will man zumindest eine zentrale Datenbank mit Informationen über alle Wehrpflichtigen etablieren. Bisher gab es die Daten zwar – aber nur regional und in Papierform.
Zuvor wird jedoch mit einer neuen russischen Offensive gerechnet. Gerade in der Umgebung von Donezk, wo der ukrainische Angriff erfolgte, sollen in den vergangenen Tagen neue Verbände zusammengezogen worden sein.
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