Waffenruhe im Ukraine-Krieg? "Sehe die Gefahr eines faulen Friedens"
Eine Blaupause, Kriege zu beenden, gibt es nicht. Ein Blick in die Geschichte lohnt sich, so Historiker Jörn Leonhard, um zu wissen, ob Gaza und Ukraine auf baldige Waffenruhe hoffen können.
Irgendwann werden auch die Kriege in der Ukraine und in Gaza enden. Aber wie und wann? In die Kristallkugel kann auch der deutsche Historiker Jörn Leonhard nicht schauen. Doch sein Blick zurück auf vergangene Kriege erlaubt Rückschlüsse, welche Chancen die Ukraine und Gaza derzeit auf baldigen Frieden haben.
KURIER: Was sind die besten Voraussetzungen für ein Ende eines Krieges?
Jörn Leonhard: Symmetrie zwischen den Kriegsparteien stellt einen wichtigen Faktor dar. Damit meine ich, dass sich irgendwann auf beiden Seiten die Einsicht einstellt, dass man auf dem Schlachtfeld militärisch nichts mehr zu erwarten hat. Ein zweiter Faktor sind glaubwürdige Vermittler.
Sie brauchen ein robustes Mandat, müssen also in der Lage sein, die Bedingungen eines Waffenstillstandes vor Ort durchzusetzen. Dazu gehört aber auch, in einer Krisenregion langfristig engagiert zu bleiben – wie etwa die Vereinigten Staaten in Nachkriegseuropa. Ihr Einsatz endete nicht am 8. Mai 1945. Mit dem Marshallplan sicherten sie langfristige politische und wirtschaftliche Perspektiven.
Wenn eine Seite die andere Seite vernichten will oder die Existenz des Gegners in Frage stellt – können da überhaupt Verhandlungen beginnen?
Solange eine Seite glaubt, militärisch noch politische Ziele zu erreichen – vielleicht nicht mehr ein klassischer Sieg, sondern ein relativer politischer Gewinn zur Wahrung des eigenen Gesichts - solange spricht viel dafür, dass der Krieg weitergeht.
Das wissen wir aus dem Ersten Weltkrieg, aus dem Zweiten Weltkrieg, aus dem Koreakrieg, dem Vietnamkrieg.
Was, wenn sich die Ukraine nicht mehr in der Lage sieht, den Krieg fortzuführen?
Das könnte zu einseitigen Konzessionen und katastrophalen Konsequenzen führen.
In den 1930er Jahren setzten Großbritannien und Frankreich gegenüber der nationalsozialistischen Aggressionspolitik lange Zeit auf Zugeständnisse. Es gab also einseitige Konzessionen gegenüber einem Gegner, der letztlich zu keinem Frieden bereit war. Diese Gefahr eines „faulen Friedens“ sehe ich auch im Ukrainekrieg.
Eine Abtretung von Gebieten im Gegenzug für unsichere Friedensgarantien würde aus meiner Sicht die russische Aggression eher bestärken. Historisch gibt es viele Beispiele, in denen einseitig erzwungene Konzessionen dem Gegner signalisierten, dass er weitergehen kann – was den Krieg eher befeuerte.
Wie etwa im Verlauf der Punischen Kriege?
Die Karthager machten ein Zugeständnis nach dem anderen, immer in der Hoffnung, den Frieden mit Rom zu stabilisieren. Aber am Ende schwächte ihre Verteidigungsfähigkeit sie so sehr , dass sie sich nicht mehr gegen die völlige Vernichtung durch Rom wehren konnten.
Könnte man da eine Analogie ziehen zur momentanen Situation?
Jedenfalls geht von diesen historischen Beispielen die Warnung vor einseitigen weitreichenden Konzessionen aus. Würde das nicht einen zum ultimativen Handeln entschlossenen Akteur wie Putin eher motivieren, seine Anstrengungen zu steigern, um doch noch einen Siegfrieden zu erreichen? Also nicht bei der Krim und der Ostukraine stehen zu bleiben.
Die Logik dahinter könnte lauten: Wenn ich diese Gebiete bekommen kann und der Westen offensichtlich nicht mehr bereit ist, die Ukraine weiter zu unterstützen, warum sollte ich die Ukraine dann nicht komplett unterwerfen?
Der deutsche Professor für Neuere und Neueste Geschichte Westeuropas an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg hat in seinem jüngsten Buch zehn Thesen – über Kriege und wie man sie beendet – aufgestellt.
Für 2024 wurde dem renommierten Historiker (56) und vielfachem Buchautor der Wilhelm-Gottfried-Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft zugesprochen. Forschungsschwerpunkt: Europas Geschichte zwischen 18. und 20. Jahrhundert.
Es gibt nicht nur die Asymmetrie der Waffensysteme oder der Ressourcen, sondern ebenso in der Bereitschaft zu glaubwürdigen Konzessionen.
Sehen Sie beim Gazakrieg eine Situation, in der beide Seiten reif für Konzessionen sind?
Hier ist die Ausgangssituation eine andere als in der Ukraine. Die USA können noch begrenzt als Vermittler mit langer historischer Erfahrung gegenüber Israel auftreten. Mit Saudiarabien, Ägypten und Qatar existieren auch mögliche Vermittler gegenüber den Palästinensern. Daraus ergeben sich zumindest Anknüpfungspunkte, was temporäre Feuerpausen und der Austausch von Geiseln beweisen.
Wer könnte für die Ukraine verhandeln?
Die Vereinigten Staaten können in der Ukraine keine Vermittlerfunktion übernehmen, ebenso wenig China, weil sie beide letztlich Partei sind. Meine vorsichtige Prognose wäre, dass Indien und Brasilien versuchen könnten, für den Ukrainekonflikt eine solche Rolle zu übernehmen, auch weil sie selbst versuchen, international größeres Gewicht zu erlangen.
Aber es ist schwer vorstellbar, dass sie über ein robustes Mandat verfügen, um mögliche Friedensbedingungen etwa auch militärisch durchzusetzen.
Österreich bringt sich gerne als möglicher Vermittler ins Spiel Aber ohne solch ein robustes Mandat kommt das wohl nicht in Frage?
Im Übergang vom Krieg zum Frieden braucht man unterschiedliche Kategorien von Akteuren, solche mit einem robusten Mandat und solche, die über besondere Erfahrungen mit diplomatischer Kommunikation und neutralen Orten verfügen. Und das trifft traditionell auf Österreich und die Schweiz zu.
Aber zur konkreten Umsetzung von Bestimmungen eines Waffenstillstands vor Ort braucht es andere Strukturen. Weder die Europäer noch die Vereinten Nationen könnten das zur Zeit – sie würden wichtig, wenn es um langfristige Perspektiven geht, einen Wiederaufbauplan etwa oder die internationale Absicherung von Pufferzonen.
Das heißt also, dass der Frieden nicht unbedingt beginnt, wenn der akute Krieg endet.
Frieden ist für uns heute jedenfalls viel mehr als die bloße Abwesenheit militärischer Gewalt, eine klassische Definition, die in früheren Epochen wie der Antike oder der frühen Neuzeit galt. Aber heute verbinden wir mit Frieden Vorstellungen von Gerechtigkeit und dem Anspruch, Kriegsverbrechen zu verfolgen und damit das Leid der Opfer anzuerkennen. Und deshalb braucht man für diese Art von Friedensgestaltung einen sehr langen Atem. Sie ist eine Generationenaufgabe.
Wir alle wünschen uns die eine Konferenz, an deren Ende ein Dokument unterschrieben wird, und dann soll es gut sein. Aber Frieden ist kein Moment, sondern ein sehr, sehr langer Prozess.
Gibt es ein historisches Beispiel für eine geglückte Beendigung eines Krieges?
Der Wiener Kongress ist kein perfektes Beispiel. Aber er hat doch einige Probleme gelöst und die Friedensmacher verhindern Blick auf Frankreich, was die Friedensordnung nach dem Ersten Weltkrieg so sehr belastet hat, nämlich die Demütigung des Gegners und die moralische Aufladung der Schuld.
Metternich argumentierte, dass man keinen Krieg gegen Frankreich, sondern gegen einen tyrannischen Usurpator namens Napoleon geführt habe. Er verstand, dass man Frankreich schnell wieder integrieren müsste, um eine langfristige Destabilisierung zu verhindern. Zudem funktionierte in Wien 1814/15 die Vertrauensbildung durch Kommunikation, durch informelle Kontakte, durch Geselligkeit. Das berühmte Wort „Der Kongress tanzt“ ist insofern gar nicht falsch, weil es über Wochen und Monate Gelegenheiten schuf, sich kennenzulernen und persönliches Vertrauen aufzubauen.
Im Gegensatz dazu wurden die Unterlegenen nach dem Ersten Weltkrieg faktisch von den Friedenskonferenzen ausgeschlossen, denn am Ende konfrontierte man sie mit der Alternative, die Verträge zu unterzeichnen oder eine Besatzung zu riskieren. Und gerade diese Art der Nicht-Kommunikation und die ultimative Form der Vorlage der Verträge von Versailles und St. Germain hat in beiden Gesellschaften den Eindruck eines Diktatfriedens hervorgerufen.
Das Ergebnis mündete in eine tiefgreifende Verbitterung, die den Nährboden für neue Revisionismen bereitete.
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