Türkischer Journalist: "Erdoğan will uns mundtot machen"

Nach HDP-Parteichef Demirtas wurde auch seine Stellvertreterin inhaftiert.
Verfolgter Journalist erhebt im KURIER-Gespräch schwere Vorwürfe gegen den türkischen Staatschef.

Er bekam Morddrohungen und steht deswegen 24 Stunden pro Tag unter Polizeischutz. Aber unterkriegen lässt sich der türkisch-armenische Journalist Hayko Bağdat dennoch nicht und übt scharfe Kritik an der Regierung unter Präsident Tayyip Erdoğan. In der Türkei tut sich Bağdat damit sehr schwer, denn alle unabhängigen Zeitungen und TV-Stationen seien abgedreht worden: "Uns bleiben nur noch die sozialen Medien – und das Ausland." Seinen Wien-Trip nützte der 41-Jährige jetzt, um auf die Missstände in seiner Heimat hinzuweisen.

"Mundtot machen"

"Bei uns leben derzeit alle Andersdenkenden unter Lebensgefahr oder zumindest mit dem Risiko, verhaftet zu werden", sagt der Journalist im KURIER-Gespräch. Auch gegen ihn liefen mehrere Verfahren – unter anderem wegen Beleidigung des Präsidenten.

Türkischer Journalist: "Erdoğan will uns mundtot machen"
Hayko Bagdat, türkisch-armenischer Journalist
An dem lässt er kein gutes Haar. "Erdoğan will alle demokratischen Kräfte mundtot machen. Er will keine Presse- und Meinungsfreiheit und kein unabhängiges Justizwesen", so Bağdat, der auf Einladung der Grünen in der Bundeshauptstadt war.

Der Staatschef nütze den Umsturzversuch vom 15. Juli, für den Ankara die Bewegung des islamistischen Predigers Fetullah Gülen verantwortlich macht, um Säuberungswellen durchzuziehen. "Gülens Leute haben zuvor tatsächlich den Staatsapparat durchdrungen und mit ihrer Willkür Probleme bereitet. Erdoğan profitierte davon (bis es zum Bruch mit dem in den USA lebenden Prediger kam). Jetzt dient dem Präsidenten der gescheiterte Coup, um gegen Andersdenkende vorzugehen", betont der Journalist.

Zehntausende im Gefängnis

Mehr als 100.000 Staatsdiener sind entlassen worden, Zehntausende von ihnen sitzen im Gefängnis, darunter auch viele Kurden-Politiker. Erst am Stefanitag wurde die Vize-Vorsitzende der Kurdenpartei HDP, Aysel Tuğluk, in Diyarbakir in ihrer Wohnung festgenommen. Sie war zugleich die Anwältin der beiden HDP-Parteichefs Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, die sich ebenfalls in Untersuchungshaft befinden. Die Regierung wirft der HDP vor, der verlängerte Arm der Kurden-Guerilla PKK zu sein.

Europa müsse viel mehr Druck auf Erdoğan ausüben, so Bağdat, denn dieser habe "den Kurden den Krieg erklärt": "Er hat sich nicht für Frieden, sondern für die Konfrontation entschieden. Das wird Folgen für den gesamten Mittleren Osten haben." Kurdisch besiedel-te Städte seien zerstört, 500 Menschen in diesem Zusammenhang bei Bombenangriffen getötet worden. Wenn dies so weitergehe, würde es eine Massenflucht Richtung Europa geben, warnt der Journalist.

Diese hat laut Medienberichten schon eingesetzt. Demnach hat sich die Zahl der Asylanträge von Türken in Deutschland von Jänner bis November im Vergleich zu 2015 verdreifacht – 80 Pro-zent von ihnen waren Kurden.

"Er hat Angst"

Einen Abbruch der Verhandlungen mit der EU lehnt Bağdat aber ab. Das würde ausschließlich dem türkischen Staatschef helfen, die "demokratischen Kräfte würde man so im Stich lassen". Brüssel solle weniger auf den Flüchtlingsdeal mit Ankara starren, mit dessen Aufkündigung Erdoğan ständig droht, sondern den Präsidenten in die Schranken weisen. Dieser wisse genau, dass die Türkei die EU mehr brauche als umgekehrt: "In Wirklichkeit hat er mehr Angst als ich."

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