Neslihan legt den Arm um ihren jüngsten Sohn, fährt ihm liebevoll durch die Haare. Die 38-jährige Frau mit dem lila Kopftuch muss kurz innehalten, bevor sie weiterspricht, die Tränen hinunterschlucken. Die Erinnerung an die frühen Morgenstunden des 6. Februars 2023, die ihre Leben komplett veränderten, sind schmerzhaft. "Meine Kinder waren unter den Steinen verschüttet, ich habe sie selbst herausgezogen", erzählt sie, bevor die Stimme wieder bricht. Zuerst ihren ältesten Sohn, der weder hören noch sprechen kann. "Wie hätte er um Hilfe rufen sollen?"
Heute ist ein rund 21 Quadratmeter großer Container das Zuhause von Neslihan, ihren drei Söhnen und ihren beiden Geschwistern, die sie zusätzlich beherbergt. Zwei Zimmer, ein kleines Bad. Auf der Waschmaschine in der Küche kocht der Schwarztee.
Nur einen Tag zuvor hat hier in der Provinz Kahramanmaraş die Erde wieder gebebt – es war das heftigste Beben seit dem 6. Februar 2023, mit einer Stärke von 5,9. Das Epizentrum lag in der Nachbarprovinz Malatya. Die Menschen sind aus den Containern ins Freie gelaufen, das Trauma sitzt tief.
Kahramanmaraş war nach Hatay eine der am schwersten von dem Beben betroffenen Provinzen in der Türkei. Über 53.000 Menschen starben insgesamt, etwa drei Millionen mussten ihre Häuser verlassen, über eine halbe Million Gebäude wurden beschädigt. Das Ausmaß der Katastrophe war selbst für die erdbebenerprobte Türkei nicht zu bewältigen. Hilfe kam von überall, selbst von Ländern, mit denen die Beziehung angespannt ist, wie Armenien oder Israel.
Schleppender Wiederaufbau
Große Schutthaufen findet man – im Gegensatz zum fast vollständig zerstörten Hatay – in Kahramanmaraş nur mehr selten. Dafür Baugerüste und halb fertige Wohnblöcke, vorrangig von der staatlichen Wohnungsbaugesellschaft Toki errichtet. Über das Wahlversprechen der türkischen Regierung, binnen eines Jahres Hunderttausende Wohnungen zu bauen, redet keiner mehr. Der Wiederaufbau dauert. Und selbst wenn genügend Wohnungen fertiggestellt wären, wären sie für viele trotz vergünstigter Kredite nicht leistbar.
Am 6. Februar 2023 erschütterten Beben der Stärke 7,7 und 7,6 den Südosten der Türkei und den Norden Syriens. Insgesamt starben über 60.000 Menschen. Elf Provinzen waren in der Türkei betroffen, noch immer leben über 420.000 Menschen in den sechs am stärksten betroffenen Provinzen in Containern.
Das Österreichische Rote Kreuz hat über 20 Millionen Euro Erdbebenhilfe geleistet – in Form von Zelten, Containern, Suppenküchen, sauberem Wasser.
Andere fürchten sich davor, wieder unter einem Dach, das über ihnen zusammenbrechen könnte, zu schlafen. Der Türkische Rote Halbmond, die Schwesterorganisation des Roten Kreuzes, rechnet damit, dass die Container, die von der staatlichen Katastrophenschutzbehörde AFAD innerhalb weniger Wochen nach dem Beben errichtet wurden, noch ein paar Jahre lang als "Zwischenlösung" dienen werden.
6.500 Menschen leben in einer der größten Container-Städte, in Kahramanmaraş, in 2.300 Containern. Darunter die 28-jährige Kübra, gemeinsam mit ihren drei Kindern und ihrem Mann, der vom Erdbeben schwere körperliche Beeinträchtigungen davongetragen hat und nicht mehr arbeiten kann. Die junge Frau ist mit ihrer dreijährigen Tochter auf dem Arm zu einem psychosozialen Treffen ins Zentrum des Roten Halbmonds gekommen.
Zu wenig Raum, keine Privatsphäre, keine Beschäftigung – das kann zusätzlich zu den materiellen Verlusten und dem Trauma zu Spannungen führen. "Bei solchen Treffen soll Frauen ein Raum zum Durchatmen und Zeit für sich gegeben werden", erklärt die Psychologin Saadet Aşan. Bei Bedarf kann man das Einzelgespräch mit psychologischer Betreuung suchen. Scheidungen sind nach dem Erdbeben genauso ein Thema wie Missbrauch von Drogen, Medikamenten, Alkohol und Suizid.
Heute werden beim Treffen weiße Keramik-Teller bemalt, es wird Tee getrunken, Teller mit süßem Gebäck herumgereicht. An anderen Tagen finden Vorträge statt, etwa zu Frauengesundheit. Ihre Tochter kann Kübra vorübergehend nebenan im Spielzimmer abgeben. Ähnliche Treffen gibt es für Männer und Kinder.
Wie lebt es sich in einem Container? Besuch bei Kübra
Wenige Stunden zuvor saßen hier rund 20 Kinder, zwischen acht und zehn Jahre alt, zum Teil noch in der orangefarbenen Uniform der Schule, die in der Container-Stadt errichtet wurde. Eifrig strecken sie die Hände in die Höhe, um die Frage der Betreuerin zu beantworten: "Was tut ihr bei Mobbing?" "Zu einer Vertrauensperson gehen!", "Oder zu den Eltern!", die Kinder plappern aufgeregt durcheinander.
"Wir dürfen die langfristigen, psychischen Auswirkungen von solchen Ereignissen nicht unterschätzen", sagt Teresa Mayr von der Internationalen Katastrophen- und Krisenabteilung des Österreichischen Roten Kreuzes. Dass Naturkatastrophen, wie auch das Hochwasser in Österreich im September, nicht nur grobe materielle Schäden hinterlassen, "wird doch noch oft vergessen".
Noch etwas funktioniert beim Türkischen Roten Halbmond besonders gut: schnelle und unbürokratische Bargeldauszahlungen. Darin hat man gemeinsam mit AFAD Erfahrung, nicht zuletzt aufgrund der rund drei Millionen syrischen Flüchtlinge im Land. Die Programme reichen von einer Art Kreditkarte, auf die Geld aufgebucht wird und mit der überall bezahlt werden kann, bis zu Bargeldauszahlungen beim Bankomaten, die an einen Abholcode und den Personalausweis geknüpft sind. Dahinter steckt die Erfahrung, "dass die Menschen selbst am besten wissen, was sie brauchen, und das Ziel, die Eigenverantwortung zu stärken", so Mayr.
Je nach Bedürfnissen gibt es individuelle Unterstützungen, etwa für therapeutische Behandlungen – wie für Neslihans gehörlosen Sohn. Nun träumt die 38-Jährige von einem Job. Sie habe sich als Reinigungskraft in einem nahen Krankenhaus beworben, erzählt sie, aber noch keine Rückmeldung erhalten. Auch den eigenen Container hält sie sauber und ordentlich. Das Lob der Gäste entlockt ihr ein Lächeln.
Hinweis: Die Kosten der Reise wurden zu einem Teil vom Österreichischen Roten Kreuz übernommen.
Kommentare