Der Völkermord-Streit

Papst Franziskus
Vor dem 100. Jahrestag gehen die Wogen hoch.

Wenige Tage vor dem 100. Gedenktag an den "Völkermord" an den Armeniern (24. April), wie sich Papst Franziskus ausdrückte, verschärft sich die diplomatische Krise zwischen der Türkei, die aus dem Osmanischen Reich hervorging, und dem Vatikan weiter. Präsident Erdogan in Richtung des Kirchenoberhaupts: "Ich möchte ihn dafür rügen und warnen", diesen Fehler wieder zu begehen. "Wenn Politiker und Geistliche die Arbeit von Historikern übernehmen, kommt Unsinn heraus", so der Staatschef.

Es sei "erschütternd, dass politische Lobbys ihre Aktivitäten jetzt auch auf religiöse Institutionen ausgedehnt" hätten, stimmte auch der Leiter der türkischen Religionsbehörde Diyant, Mehmet Görmez, in den Chor der Entrüsteten ein. Im KURIER-Gespräch nimmt der türkische Botschafter in Österreich, Hasan Gögüs, diesen Ball auf und wird konkret: "Die Öffentlichkeit wird mit armenischer Propaganda bombardiert."

"Kein Genozid"

Die "Ereignisse" ab 1915 im Osmanischen Reich, wie der Diplomat in Bezug auf die Armenier-Frage stets formuliert, seien schrecklich gewesen, aber kein Genozid. "Die Bezeichnung für Völkermord ist eng und eindeutig, und es bedarf eines Gerichtsurteiles dafür. Das gibt es aber nicht", so Gögüs.

Für den Botschafter stellt sich die Sache folgendermaßen dar: Während des Ersten Weltkrieges, als Russland die Osmanen angegriffen hat, hätten nationalistische Armenier mit dem Eindringling kollaboriert. Man habe dann damit begonnen, die armenische Bevölkerung, die in der Nähe der Frontlinien lebte, aber auch andere "umzusiedeln".

Für den Historiker Christoph Benedikter stellen sich diese Pläne aber ganz anders dar: "Die Deportationen waren geplant, die Morde waren geplant. Der Tod der Deportierten war schlicht Ziel der Aktionen."

Der Botschafter betont, dass den Verantwortlichen ohnehin der Prozess gemacht worden sei, 67 Verantwortliche seien zum Tode verurteilt worden, 68 hätten lebenslange Haftstrafen erhalten. Faktum ist aber auch, dass die Urteile mit ganz wenigen Ausnahmen nie vollzogen wurden. Die meisten der Täter nahmen in der neuen Türkei Atatürks führende Positionen ein.

Benedikter, er arbeitet am Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung, sieht hinter den von langer Hand geplanten Verbrechen vor allem mächtige türkisch-nationalistische Gruppen, die parallel zur Führung des Osmanischen Reiches agierten:"Man nützte den Ausbruch des Weltkrieges, um diese Pläne umzusetzen." Die schlimmsten Verbrechen aber, wie die massenhafte Ermordung armenischer Männer in Arbeitsbataillonen, seien bewusst nicht schriftlich festgehalten worden.

Botschafter Gögüs schlägt eine gemischte Historiker-Kommission vor, die das Geschehen aufarbeiten solle. Ein derartiger Plan liegt seit Jahren auf dem Tisch. Für die armenische Seite und die meisten Historiker steht fest, dass es sich bei den Massakern und Deportationen ab 1915 um einen "Völkermord" gehandelt habe. Von den zwei bis zweieinhalb Millionen Armeniern, die im Osmanischen Reich gelebt hätten, seien 1,5 Millionen umgekommen, beziehungsweise umgebracht worden. Andere Schätzungen gehen von "nur" 300.000 bis 600.000 Toten aus. Die Überlebenden assimilierten sich, die meisten wurden Muslime, viele flüchteten ins Ausland. Heute gibt es in der Türkei ca. 60.000 Armenier.

Das Europaparlament stimmt am Mittwoch über eine Resolution ab, in der die Türkei aufgefordert wird, die Verfolgung als "Völkermord" anzuerkennen.

Der Völkermord-Streit

Kommentare