Trauer um EU-Parlamentspräsidenten: "Sassoli war de facto ein Gefangener von Corona"
Die Pandemie ließ dem überraschend verstorbenen Chef des EU-Parlaments kaum politischen Handlungsspielraum. Er wollte länger im Amt bleiben, doch seine Nachfolgerin stand bereits fest.
"Kurz vor Weihnachten, da haben wir zusammen im Hof des Europäischen Parlaments in Straßburg das Friedenslicht von Bethlehem übernommen. Im Nachhinein betrachtet ist das fast symbolisch – denn es war das letzte Mal, dass ich David Sassoli gesehen habe", erinnert sich Othmar Karas.
Schon damals sei es dem Präsidenten des EU-Parlaments sichtlich nicht mehr gut gegangen, schildert Karas, einer der Vizepräsidenten des Hauses, dem KURIER.
In der Nacht auf Dienstag ist der 65-jährige Italiener in einem Spital in Aviano gestorben.
Ein Strahlemann oder ein lautstarker, mit einem Übermaß an Selbstbewusstsein ausgestatteter Präsident wie sein Vorgänger – Antonio Tajani, ebenfalls ein Italiener – war Sassoli nie. Eher zufällig war der sozialdemokratische EU-Abgeordnete im Sommer 2019 ins Amt des Präsidenten gehievt worden. Machtkämpfe zwischen EU-Regierungen, Parlament und Kommission taten damals eine Lücke auf.
Und niemanden mehr als Sassoli selbst überraschte es, dass der frühere italienische TV-Journalist diese Lücke plötzlich füllen sollte.
Er ging das Amt beherzt an – doch es blieb in seinen gesamten zweieinhalb Jahren schwierig. "Er hatte keine Chance, eigene politische Akzente zu setzen", sagt Othmar Karas, 2Präsident Sassoli war de facto ein Gefangener von Corona."
Krisenmanager
Die alles dominierende Pandemie ließ den Politiker Sassoli blass aussehen – und doch war die Bewältigung der vielen Coronawellen Sassolis größte Leistung: An die 700 hin- und herreisenden EU-Abgeordneten samt ihren mehreren Tausend Mitarbeitern weiter das Arbeiten zu ermöglichen, das ist dem gebürtigen Florentiner gelungen.
Als eine Art Krisenmanager eines Großbetriebes hat er die Handlungsfähigkeit des EU-Parlaments aufrechterhalten. In der ersten Welle ließ Sassoli die Parlamente in Brüssel und Straßburg öffnen, damit dort Suppenküchen und Covid-Teststationen errichtet werden konnten.
Dass den mit durchaus emotionalen Reden bestechenden Italiener außerhalb seiner Heimat nur wenige Europäer kannten, hat auch mit einer Schwäche zu tun: David Sassoli sprach in der Öffentlichkeit so gut wie nie Englisch. Überhaupt galt der Sozialdemokrat und zweifache Familienvater als eher in sich gekehrt und für einen Politiker ungewöhnlich still.
Wahl der neuen Präsidentin
Kommende Woche wäre Sassolis Amtszeit regulär zu Ende gegangen. Seine Nachfolgerin steht bereits fest: Es ist die 42-jährige Christdemokratin Roberta Metsola aus Malta. Die erst dritte Frau an der Spitze des EU-Parlaments wurde wegen des überraschenden Todes von Sassoli bereits gestern zur geschäftsführenden Parlamentspräsidentin gekürt. Nächsten Dienstag wird die Maltesin offiziell vom Plenum der EU-Abgeordneten zur neuen Präsidentin gewählt.
Für die Nachfolge Sassolis, die nach dem Sozialdemokraten nun turnusgemäß an einen Christdemokraten (Europäische Volkspartei) übergeht, hatte sich auch Othmar Karas beworben. Doch der EU-Vizeparlamentspräsident kam nicht über die erste Vorwahlrunde hinaus.
Versuchte Verlängerung
Auch David Sassoli selbst hatte im Herbst noch einmal aufbegehrt: Weil ihm Corona während seiner Amtszeit einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte, wollte er doch noch länger Präsident bleiben. Und viele EU-Sozialdemokraten, gestärkt durch den Wahlsieg der SPD in Deutschland, stellten sich zunächst hinter ihn: Es gebe schließlich keinen Vertrag, wonach das Präsidentenamt automatisch alle zweieinhalb Jahre zwischen EVP und Sozialdemokraten wechseln müsse.
Doch die EVP und ihre Kandidatin setzten sich durch – und Sassoli ging es immer schlechter. Schon im Herbst war der Parlamentspräsident wochenlang wegen Krankheit ausgefallen. Gerüchte von der Legionärskrankheit und Lungenentzündung machten die Runde. Seit dem Stephanitag lag David Sassoli wieder im Spital. Zuletzt erlag der 65-Jährige einem völligen Zusammenbruch seines Immunsystems.
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