"Terroristen neuen Stils": So sieht Europa das Hanau-Attentat
"De Standaard“(Brüssel):
"Dass die Regierung das Problem erkennt und benennt - Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) sagte, 75 Jahre nach Ende der NS-Diktatur sei der rechte Terror wieder da - ist ein Schritt nach vorn. Denn lange Zeit hat die deutsche Gesellschaft so getan, als ob sie das rechtsextreme Monster gebannt hätte. In den 1960er Jahren wurde die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) gegründet, schaffte jedoch nie den Durchbruch. Und während im übrigen Europa die rechtsextremen Parteien schnell wuchsen, schien Deutschland das letzte gallische Dorf zu sein, das standhielt. Die Deutschen schienen definitiv ihre Lektion gelernt zu haben. Oder steckten sie nur wie der Vogel Strauß den Kopf in den Sand? (...) Obwohl eine große Mehrheit der Deutschen radikal gegen rechtsextremes Gedankengut ist - 'Wir sind mehr' sagen sie, verbuchte die AfD im vergangenen Jahr in den neuen Bundesländern beachtliche Wahlerfolge. Mittlerweile wurde die Partei vollständig von Leuten übernommen, die ihre Sympathie für die Nazi-Partei kaum noch verbergen.“
"De Morgen“ (Brüssel):
"Experten zufolge sind die Gewalttäter häufig Menschen, die sich im Internet radikalisieren, ohne dass ihre Umgebung davon etwas mitbekommt. Die Deutschen sprechen in diesem Zusammenhang von 'Terroristen neuen Stils', die nicht Teil einer bei den Behörden bekannten Organisation sind, sondern in der Anonymität operieren. Der Mann, der den CDU-Politiker Walter Lübcke erschoss, hatte allerdings Kontakte mit Neonazi-Organisationen. Einer dieser Clubs, Combat 18 (die Zahl verweist auf die Initialen von Adolf Hitler), wurde unlängst verboten.“
"El Mundo“ (Madrid):
"Nach zwei Weltkriegen und den blutigen Erfahrungen des jüdischen Holocausts und des sowjetischen Gulags, die durch die zerstörerischsten utopischen Projekte des 20. Jahrhunderts - den Nationalsozialismus und den Kommunismus - hervorgerufen wurden, glaubte man, Europa sei endgültig gegen Kriegsgelüste geimpft. Die tiefe Wirtschaftskrise (...) und das daraus resultierende Misstrauen der Bürger gegen Gemeinschaftsinstitutionen, die sich als unfähig erwiesen haben, mit den Folgen umzugehen, haben die intoleranten Einstellungen wieder aufflammen lassen, die von den Hassreden des Nationalismus, von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit noch angeheizt werden.
Die beiden Schießereien, bei denen am Mittwochabend in der deutschen Stadt Hanau elf Menschen ums Leben kamen, sind die tragische Folge des europaweiten Erwachens des Populismus und der extremen Rechten, die bei den europäischen Wählern immer mehr Unterstützung finden.“
"El Periódico“ (Barcelona):
"Das Schlimmste an dem Anschlag ist, dass es sich nicht um einen Einzelfall handelt. Deutschland, dessen Kanzlerin Angela Merkel sich in der Migrationskrise von 2015 vorbildlich verhalten hat, lebt in bewegten Zeiten mit der Vermehrung von Neonazi-Gruppen und den Wahlzugewinnen der ultrarechten Alternative für Deutschland (AfD). Das Phänomen ist nicht neu, aber in letzter Zeit hat es sich verschlimmert. (...)
Die Anschlagswelle, die Merkel mit dem Satz 'Rassismus ist Gift, Hass ist Gift und dieses Gift existiert in unserer Gesellschaft' verurteilt hat, fällt mit dem Riss im cordon sanitaire in Thüringen zusammen, den die rechten Parteien in Deutschland immer gegen die extreme Rechte aufrechterhalten hatten.“
"The Guardian“ (London):
"Eine der Schlüsselfragen unserer Zeit besteht darin, inwieweit das Ausmaß der Wiederauferstehung des Nationalismus den Rechtsextremismus und tödlichen Rassenhass angefacht und legitimiert hat. Die Sache ist kompliziert. In gewisser Weise ähnlich wie (die rechtspopulistische britische Partei) Ukip hatte die AfD als eine vor allem euroskeptische Partei begonnen. Doch seit der Migrationskrise von 2015 hat sie sich in eine breitere Bewegung mit starken Elementen verwandelt, die bewusst Islamophobie und Rassismus schüren. (...) Angela Merkels bevorstehender Abschied von der Bühne bedeutet, dass eine Periode politischer Turbulenzen unvermeidlich ist. Doch während die erfolgreichste Partei der Nachkriegsära in Deutschland über ihre künftige politische Richtung nachdenkt, sollten die Ereignisse von Hanau all jenen stark zu denken geben, die versuchen möchten, die äußerste Rechte zu zähmen, einzubinden oder zu imitieren. Der Sperrgürtel zur Isolierung der AfD und ihresgleichen muss aufrechterhalten werden.“
"The Times“ (London):
"Das deutsche Innenministerium schätzt, dass es im Land jetzt 12.700 Rechtsextremisten mit einer Neigung zur Gewalt gibt. Das allein wäre schon eine große Herausforderung. Aber zwei Faktoren machen die Sache noch schwieriger. Der erste ist, dass verschiedene Stränge der extremen Rechten sich anscheinend im Internet kreuzen und dass Einzelgänger leicht Zugang zu einem Arsenal an Kontakten, Anleitungen für Waffen und rassistischen Doktrinen finden. Der zweite besteht darin, dass Deutschlands Sicherheitsapparat viele Jahre lang darauf ausgerichtet wurde, sich auf die vom islamistischen Terrorismus ausgehende Bedrohung zu konzentrieren. Kritiker argumentieren, dass er lange Zeit zu selbstgefällig - oder gar vorsätzlich blind - auf das Aufkommen einer flexiblen, heterogenen und internationalisierten extremen Rechten reagierte und es daher versäumte, angemessene Ressourcen für deren Überwachung bereitzustellen.“
“Neue Zürcher Zeitung":
“Die wehrhafte Demokratie vermag allerdings zu unterscheiden zwischen rechter Demagogie im Stil eines Björn Höcke und Rechtsterrorismus wie in Hanau, Halle oder Kassel. Sie konnte das in den siebziger Jahren, als eine vernünftige Mehrheit Linksterrorismus nicht mit Linksextremismus gleichsetzte. So wurde die Grundlage gelegt, um die Täter der Rote-Armee-Fraktion gesellschaftlich zu isolieren und den Linksterrorismus zu vernichten. Vielleicht ist das die größte Tugend des Rechtsstaats: dass er Grenzen definiert, wo andere sie zum Zweck der Propaganda verwischen. Heute wird Deutschland ebenfalls klug genug sein, nicht alles aus einer verständlichen Empörung heraus in einen Topf zu werfen - Terroristen und Populisten."
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