Es war der Abschluss einer bitteren Woche für die deutsche Sicherheitspolitik: Starke Differenzen mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in Bezug auf die Unterstützung der Ukraine, erzürnte Briten über den deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz - er hatte die Debatte über die Taurus-Lieferung für beendet erklärt und argumentiert: „Was an Zielsteuerung und an Begleitung der Zielsteuerung vonseiten der Briten und Franzosen gemacht wird, kann in Deutschland nicht gemacht werden.“
Auf Reaper-Drohne gefeuert
Für London ein „ein eklatanter Missbrauch von Geheimdienstinformationen“ – schließlich war aus seinem Statement abzuleiten, dass sich britische Soldaten in der Ukraine befänden. Dazu kam, dass die Fregatte „Hessen“ im Roten Meer irrtümlich auf eine US-Reaper-Drohne feuerte – und sie dennoch nicht traf. Damit nicht genug veröffentlichten russische Medien am Freitag den Mitschnitt eines Gesprächs zwischen dem deutschen Luftwaffeninspekteur Ingo Gerhartz, seinem Abteilungsleiter Ausbildung Brigadegeneral Frank Gräfe und zwei weiteren Stabsoffizieren.
Der Inhalt des vertraulichen Gesprächs, das Mitte Februar geführt wurde: Ausgerechnet die Lieferung und der theoretisch mögliche Einsatz der Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine – und ob die Ukrainer die Zieldatenprogrammierung selbst vornehmen könnten. Ergebnis: Sie könnten. Dies steht im krassen Gegensatz zur Erklärung des deutschen Kanzlers, dass deutsche Soldaten dafür notwendig wären.
Was die Ukrainer mit den Taurus vorhaben, ist seit Monaten klar: Die Zerstörung der Brücke von Kertsch, die Russland mit der Halbinsel Krim verbindet sowie der Beschuss russischer Munitionsdepots. Aus dem Gespräch geht hervor, dass bis zu 20 Taurus notwendig wären, die Brücke zu zerstören. Folgt man den Offizieren, könnte Deutschland bis zu 100 dieser Marschflugkörper liefern.
Die Frage der Kriegspartei
Diskutiert wird auch, ob es bereits einer Kriegsbeteiligung gleichkäme, kämen die Zieldaten und Satellitenbilder direkt von der Bundeswehr. Speziell im Fall der Kertsch-Brücke ist jedoch davon auszugehen, dass die ukrainischen Streitkräfte schon lange über diese Informationen verfügen.
Der Taurus-Tandem-Gefechtskopf mit dem Namen "Mephisto" besteht aus zwei Teilen: Eine Vorhohlladung sorgt dafür, dass bei einer Brücke beispielsweise der Boden durchschlagen wird, bis der Gefechtskopf an einem Brückenpfeiler detoniert.
Die rund fünf Meter langen und fast 1.400 Kilo schweren Flugkörper sind mit einem eigenen Triebwerk und insgesamt vier voneinander unabhängigen Navigationssystemen ausgestattet. Sie orientieren sich anhand von Daten über die Geländebeschaffenheit und gleichen ihren Standort über Bild- und Infrarotsensoren sowie GPS-Daten ab.
Taurus werden von Flugzeugen aus abgefeuert und verfügen über eine Reichweite von 500 Kilometern. Die deutsche Bundesregierung fürchtet deswegen, dass die Ukraine die Taurus-Marschflugkörper auch auf russisches Territorium feuern könnte.
Dass Offiziere solche Überlegungen anstellen, ist nicht ungewöhnlich. Sollte es der politische Wille sein, Taurus-Lieferungen zu genehmigen, muss die Bundeswehr auf diesen Fall vorbereitet sein. Mit dem russischen Narrativ, dass Berlin mit einer Lieferung zur Kriegspartei würde und Scholz‘ Erklärung dürfte eine solche Entscheidung ohnehin obsolet sein.
Rein völkerrechtlich würde auch eine Taurus-Lieferung Deutschland nicht zur Kriegspartei machen, ebenso wie ukrainische Angriffe auf die Brücke von Kertsch völkerrechtlich legitim wären. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass Scholz offensichtlich fürchtet, mit der Lieferung zu einer Eskalation beizutragen. Ähnlich hatte er bereits bei der Lieferung der Kampfpanzer Leopard argumentiert.
Abseits davon ist der Imageschaden der deutschen Regierung wie der Bundeswehr beträchtlich: Nicht nur, dass die Unterhaltung offensichtlich über eine unsichere Leitung stattgefunden hatte, im Gespräch bestätigten die Offiziere auch, was Scholz bereits zuvor angedeutet hatte: Die Präsenz britischer Soldaten in der Ukraine. Allerdings ist dies bereits seit den „Discord-Leaks“ im vergangenen Jahr bekannt.
Auf die Taurus-Debatte dürfte der Mitschnitt keinen großen Einfluss mehr haben: „Ich bin der Kanzler, und deshalb gilt das“, sagte Scholz am Montag und bekräftigte sein Nein zur Lieferung. Die Zukunft der abgehörten Offiziere ist noch unklar, der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius will „nicht vor Abschluss solcher Untersuchungen über personelle Konsequenzen spekulieren“.
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