Stumme Zeugen: Stasi-Unterlagenbehörde wird aufgelöst
Zuerst den Gang geradeaus, dann nach rechts, links und die Wendeltreppe hinunter. So bürokratisch die Staatssicherheit Informationen über die Menschen in Ost und West gesammelt hat, so komplex ist auch der Weg zu deren Akten. Im Archiv angekommen, öffnet der Mann vom Sicherheitsdienst eine schwere Türe: Kühle Luft schlägt einem ins Gesicht.
Tausende Unterlagen werden hier bei konstanter Temperatur und Luftfeuchtigkeit in Schränken gelagert. In orangen und gelben Umschlägen, manche leicht zerfleddert. Sie erzählen von Menschen, die freiwillig oder, weil sie nicht anders konnten, andere ausspioniert haben. Historiker Norman Kirsten blättert in den Seiten einer Nachbildung, wo der inoffizielle Mitarbeiter (IM) schriftlich seine Tätigkeit erklären und einen Decknamen angeben musste – „hier hatten sie freie Wahl“.
Ort der Revolution
Dass diese Zeugnisse heute in sechs Stockwerken aufbewahrt sind, haben Bürgerrechtler vor mehr als 30 Jahren errungen. Am 15. Jänner 1990 drangen Tausende hier, in die Berliner Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit, ein. „Das verlief für eine Revolution relativ entspannt“, so Kirsten. Manches ging dennoch verloren oder wurde vernichtet.
Um das zu verhindern, entstand die Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen (BStU) und ein Gesetz, das die Akteneinsicht regelt. Seit den 90ern können Menschen nachlesen, was der Staat über sie gewusst hat.
Das soll so bleiben, erklärt Kirsten. Seit dieser Woche ist die Behörde für die er arbeitet, aufgelöst – Unterlagen und Mitarbeiter wandern in das Bundesarchiv. Viele Unterlagen seien in einem schlechten Zustand, sie sollen besser gelagert und digitalisiert werden. Archiv und Ausstellung bleiben am historischen Ort in Berlin-Lichtenberg, einem braunen Gebäudekomplex.
Am einst geheimsten Ort der DDR zeigt Norman Kirsten, wie ein diktatorisches System funktioniert und was es zusammenhält. „Die Stasi war ein Bürokratieapparat“, sagt der Historiker und zeigt im Ausstellungsraum auf eine Box mit Karteikarten – eine Datenbank, um die Informationen zu strukturieren. Heute helfen sie bei der Suche, wenn jemand eine Akte lesen will.
Junge interessieren sich
Etwa 3.000 Menschen stellen Monat für Monat einen Antrag. Neben direkt Betroffenen sind es die nächsten Verwandten, die Fragen haben. Seit 2012 können sie Auskünfte über verstorbene Angehörige erbitten. Ihr Anteil ist auf 23 Prozent gestiegen. „Kinder und Enkel wollen wissen, wie die Stasi in das Leben ihrer Familie eingegriffen hat“, erklärt Roland Jahn.
Der frühere DDR-Oppositionelle ist der letzte Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde und hat an der Umstrukturierung mitgearbeitet. Die Kritik einiger Bürgerrechtler, die eine Abwicklung und einen Schlussstrich fürchten, teilt er nicht. Die Aufklärung gehe weiter, die Erhaltung der Akten sei gesichert. „Sie gehören zum kulturellen Gedächtnis der Nation.“ Und würden helfen, die Zusammenhänge zu verstehen und einen differenzierten Blick auf Lebenswege festzustellen. So habe der eine aus Überzeugung mitgemacht, der andere des Geldes wegen, und der Dritte sei erpresst worden, so Jahn.
Er bekam an der Uni die Staatsmacht zu spüren. Als er sich in einem Seminar kritisch über die Ausbürgerung von Wolf Biermann äußerte, wurde er exmatrikuliert und ausgebürgert. „In den Akten habe ich gesehen, wie die Geheimpolizei mit der Universität agiert und meine Freunde und deren Familien unter Druck gesetzt hat.“ Jahn habe später einige Gespräche geführt. Sie waren schmerzhaft wie lehrreich. „Wenn Menschen gegen ihre Überzeugungen handeln, sollte man sich hüten, ihnen Vorwürfe zu machen. Man weiß nie, wie man selber gehandelt hätte.“
Überhaupt sei die Beschäftigung mit der Geschichte eine Lebenshilfe für die Gegenwart. Der Blick in die Akten schärfe die Sinne, so Jahn. Wenn etwa der Streit um den besten Weg im Umgang mit der Pandemie mit einer Diktatur gleichgesetzt wird. „Alleine, dass heute öffentlich debattiert wird, verbietet einen Vergleich und verhöhnt die Opfer. In der DDR wären die Leute ins Gefängnis geworfen worden.“ Vieles von dem, was man in Belarus sehe, wie die Entführung eines Journalisten, erinnere ihn dagegen an die Methoden der Stasi.
Wissen nimmt ab
Diese Erinnerungen aufrechtzuerhalten, ist eine Herausforderung: Zeitzeugen sterben, für jüngere Generationen rücken die Geschehnisse in die Ferne. Wenn Historiker Norman Kirsten junge Menschen durch die Räume führt, stellt er fest, dass sie mit wenig Vorwissen kommen. Sie versuchen, mit Beispielen von Jugendlichen oder Sportlern eine „Brücke zur Lebenswirklichkeit zu schlagen“. Oder sie bieten Filme und Gesprächsrunden zum Thema Menschenrechte an – wegen Corona zuletzt online.
Den Lockdown konnten studentische Mitarbeiter nutzen, um an einer Stasi-Hinterlassenschaft zu arbeiten: 15.000 Säcke mit Aktenschnipsel. Zwar gibt es eine Software zur Rekonstruktion, aber die Scanner sind nicht leistungsstark genug. Vieles muss händisch zusammengefügt werden – eine Puzzlearbeit, die noch manches ans Licht bringen könnte.
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