Auf mehreren Quadratkilometern organisierte die Staatssicherheit dort die Kontrolle und Überwachung eines Staates und seiner Bürger. 8.000 hauptamtliche Mitarbeiter waren dort beschäftigt. Dazu kamen zirka 180.000 inoffizielle Mitarbeiter (IM), die 1989 in den Unterlagen des MfS verzeichnet waren. Sämtliche Informationen, die sie über andere zusammentrugen oder die über sie selbst gesammelt wurde, kamen in Akten. Aus Angst, dass sie verschwinden oder beseitigt werden, gingen Tausende Menschen vor 30 Jahren vor die Tore. Wie sich zeigen sollte, waren ihre Sorgen berechtigt. Als die Stasi nachgab, die Pforten öffnete, war vieles bereits im Reißwolf.
Zu ihrer Überraschung stießen die Menschen auf ein Gelände, das wie eine eigene Stadt aufgebaut war: Kino, Buchladen, Sauna, Reisebüro, Lebensmittelgeschäft, wo es an keinen Produkten fehlte – solche Entdeckungen machten einige wütend, berichtet der heute 57-Jährige. "Da hat man nach allem gegriffen, was nicht niet- und nagelfest war."
Dennoch verlief der Abend, der in Medien als "Sturm auf die Stasi" bezeichnet wird, laut Polzin gesittet ab. Ordner mit Schärpen, die das Neue Forum bei früheren Demos stellte, riefen zur Besonnenheit auf, damit nichts zerstört wurde. In Folge gründete sich ein Bürgerkomitee, das bei der Auflösung der Behörde mitwirken sollte – Polzin wurde Teil davon.
Mehrere Monate half er mit, Räume abzusichern, zu versiegeln, Akten vorzusortieren. Erstaunliches kam dabei ans Licht: So wurde die Poliklinik am Gelände nicht bloß zum Wohl der Mitarbeiter eingerichtet, sondern aus Selbstschutz – "niemand sollte wissen, welche Krankheitsbilder es in der Stasi gab". Auch sollten keine Zivilisten oder gar Ausländer über den Alltag auf dem Gelände erfahren. Also führte man Sichtproben von den Hochhäusern rundherum durch. Die Folge: Vor dem Haus mit der Etage des Ministers wurde eine Art Vorbau errichtet, damit man nicht sieht, wer aus dem Auto ein- und aussteigt.
Was andere ebenfalls nicht wissen sollten, packten Mitarbeiter nach dem Mauerfall in Reißwölfe oder Maschinen, die Papier mit Wasser vermischten und am Ende verquollene Pappe rauspressten. „Man hatte seit Monaten versucht, Akten zu vernichten, wurde der Masse des Materials aber nicht mehr Herr“, erzählt Polzin. Bei Hausbegehungen entdeckten sie zig Säcke mit von Hand zerrissenem Papier – noch heute hat man 16.000 Stück. Um sie zu identifizieren, entwickelte das Fraunhofer-Institut eine Software, die eingescannte Schnipsel automatisch zusammenführt. Zuletzt kam das Projekt ins Stocken, es fehlt an der Hardware und Finanzierung.
Dass sich in den vorhandenen Unterlagen viel finden lässt, weiß Polzin. Aus seinem einmaligen Besuch der Demo hat sich ein Arbeitsverhältnis ergeben, was er so nie geplant hat. Er recherchiert heute in der Abteilung Bildung und Forschung. Zuletzt beschäftigte er sich mit von der Stasi enteigneten Antiquitätenhändlern – "tragische Einzelschicksale". Er erzählt von Menschen, die kriminalisiert oder mit irrsinnigen Steuerforderungen konfrontiert wurden. Nicht selten gab es eine Gefängnisstrafe dazu, ehe man ihnen die Sammlung wegnahm. Die DDR-Führung wollte die Bilder, Skulpturen und Möbel zu Geld machen – der Staat brauchte Devisen.
Abgesehen davon gibt es nach wie vor Anfragen von Bürgern im fünfstelligen Bereich pro Jahr, die wissen wollen, was über sie in den Akten steht und wer sie bespitzelte. Die Debatte über die Herausgabe dieser Informationen wurde einst kontrovers geführt. Arno Polzin findet, dass es jeder für sich entscheiden müsse. Wer in den Akten einen Decknamen liest, würde automatisch Mutmaßungen anstellen, mehrere Personen verdächtigen, die Decknamenentschlüsselung gäbe einem Klarheit, findet er. "Diese Entscheidung muss jeder für sich treffen." Ihm selbst blieb sie glücklicherweise erspart.
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