Gauck-Nachfolger: "Die Freiheit des Westens war nur die halbe Freiheit"
Als am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz die größte Demonstration in der DDR-Geschichte stattfand, war Roland Jahn auf der anderen Seite: Die Staatssicherheit (Stasi) hatte den Oppositionellen 1983 gewaltsam ausgebürgert. Als ihre Zentrale später gestürmt wurde, war er als Journalist dabei. Seit 2011 leitet er die Behörde, deren Opfer er einst war.
KURIER: Herr Jahn, vor knapp 30 Jahren haben hier in Berlin fast eine halbe Million Menschen demonstriert. Sie waren zwangsausgebürgert. Wie haben Sie die letzten Tage der DDR miterlebt?
Roland Jahn: Ich habe als Journalist in West-Berlin den Kontakt zu Oppositionsgruppen gehalten. Der Fall der Mauer war für mich absehbar. Besonders Anfang September, als in Ungarn die Grenzen aufgemacht wurden, immer mehr Menschen geflüchtet sind und der wirtschaftliche Zerfall befördert worden ist. Da stieg die Spannung. Es waren aber die Demonstrationen, die Montag für Montag immer größer wurden, die am Ende den meisten Druck auslösten.
Am Tag, als die Mauer fiel, sind Sie in den Osten gelaufen. Warum?
Ich wurde sechs Jahre zuvor gewaltsam gegen meinen Willen ausgebürgert und von Freunden und Familie getrennt. Die Freiheit des Westens war nur die halbe Freiheit, solange die Mauer stand. Ihr Fall war für unsere Familie eine Befreiung. Als in der Nacht die Grenzen geöffnet wurden, strömten die Massen von Ost nach West. Ich bin gegen diesen Strom gelaufen, nach Hause, nach Jena, wo meine Eltern lebten.
Wann hatte Sie die Stasi das erste Mal im Blick?
Ich habe an der Universität die Staatsmacht zu spüren bekommen, als ich meine Meinung kritisch in die Seminardiskussion eingebracht habe. Da wurde meine Exmatrikulation veranlasst. Viel später konnte ich in den Stasi-Akten nachlesen, dass die Stasi das organisierte.
Was haben Sie darin noch herausgefunden?
Die Zusammenhänge meiner späteren Verhaftung, wer dafür verantwortlich war und wer als Verräter in meinem persönlichen Umfeld aktiv war. Beeindruckt hat mich, dass die Stasi sogar nach meiner Ausbürgerung in West-Berlin unterwegs war. In der Akte fand ich eine Skizze meiner Wohnung in Berlin-Kreuzberg, wo aufgezeichnet war, welches Möbelstück wo steht. Auch der Schulweg meiner Tochter wurde überwacht.
Wie geht man damit um, wenn man davon erfährt, dass man von nahestehenden Menschen bespitzelt wurde?
Der persönliche Schmerz war groß, aber auf der anderen Seite ist es ein Erkenntnisgewinn gewesen. Die Freundschaft war keine echte. Trotzdem war es mir wichtig, zu fragen: Warum hast du das gemacht? Die Reaktionen waren unterschiedlich. Manche haben es verdrängt, andere waren offen und haben bereut. Das bietet die Möglichkeit, zu verzeihen.
Konnten Sie denn verzeihen?
Ich habe auch verzeihen können, weil die Reue vorhanden war. Da setzt sich ein Mensch mit seinem Verhalten damals auseinander. Das ist wichtig, um zu erfahren, wie diese Diktatur funktioniert hat, warum Menschen mitgemacht haben und wie sie mit ihrer Verantwortung für geschehenes Unrecht umgehen.
45.000 Anträge auf persönliche Akteneinsicht wurden 2018 gestellt. Was sind die Motive der Menschen, die Einsicht nehmen wollen?
Wir stellen fest, dass viele Menschen, die ins Rentenalter kommen, Einsicht nehmen. Sie brauchen oft Belege für ihre politische Verfolgung, um rehabilitiert zu werden. Oder weil sie jetzt den Dialog mit den nachfolgenden Generationen führen. Es sind vor allem die Enkelkinder, die ihre Großeltern fragen, wie das damals in der DDR war und was in ihren Stasi-Akten steht.
Wie geht man mit den Menschen um, die sich im damaligen System eingefügt haben und mit Blick auf manche Alltagserfahrungen auch positive Erinnerungen an die DDR-Zeit haben?
Wichtig ist, dass wir uns in der Rückschau nicht auf die Staatssicherheit beschränken, sondern wir sollten die Vielfalt des Lebens in der DDR betrachten. Man muss Respekt haben vor den Biografien, aber deutlich machen, dass es ein Unrechtsstaat war. Auch ich habe schöne Zeiten in der DDR erlebt, aber nicht wegen – sondern trotz des Staates. Die Menschen im Osten haben diese Diktatur überwunden und die friedliche Revolution bewirkt, darauf dürfen sie stolz sein.
Zuletzt hat die AfD bei Landtagswahlen damit geworben, die Wende mit dem Stimmzettel zu vollenden, die Verhältnisse in der BRD mit der DDR-Diktatur verglichen.
Es gilt darauf hinzuweisen, wo die Unterschiede liegen. Wer die Verhältnisse in der DDR mit denen der heutigen Bundesrepublik gleichsetzt, wer davon spricht, dass es keine Meinungsfreiheit geben würde, der verhöhnt die Opfer der SED-Diktatur.
Dennoch zeigen die Wahlergebnisse, dass es eine hohe Zustimmung für antidemokratische Aussagen und Fremdenfeindlichkeit gibt. Was ist da passiert?
Es gibt viele Ursachen. Manches ist in der DDR begründet, anderes in den 90ern, in den 2000ern, in der Gegenwart oder in der Persönlichkeitsstruktur. Entscheidend ist aber, dass wir freie Wahlen haben, sich die Menschen artikulieren können. Die Wahlbeteiligung hat zugenommen, es finden Debatten statt. Wenn diese respektvoll geführt und die Werte unsere Gesellschaft beachtet und verteidigt werden, ist das eine lebendige Demokratie und kein Grund zur Panik.
Ost-West-Gegensätze sind nach wie vor ein großes Thema. Wie groß ist diese Kluft aus Ihrer Sicht?
Heutige Probleme haben nur bedingt mit Ost und West zu tun. Da geht es um strukturschwache Regionen oder soziale Fragen, die die ganze Bundesrepublik betreffen. Mich stört auch diese Pauschalisierung in Menschengruppen. Es gibt nicht die Ostdeutschen. Das sind viele verschiedene Lebensläufe. Es sind zudem 30 Jahre vergangen. Es gibt eine neue Generation, die mit der DDR nur indirekt zu tun hat. Es sind so viele Menschen von Ost nach West gegangen und umgekehrt. Es wäre unangemessen, sie als Ost- oder Westdeutsche zu definieren.
Angenommen, ich rufe Sie in zehn Jahren wieder an, werden wir da noch über Ost und West reden?
Wer 1989 den Mauerfall erlebt hat, hat allen Grund, Optimist zu sein. Ich bin also optimistisch, dass die nächste Generation ihre Identität nicht nach Ost und West sortiert. Wenn ich heute in meiner Heimatstadt Jena an der Uni bin, sehe ich Studenten, die kommen aus Brandenburg oder Bayern.
Hintergrund:
Das „Ministerium für Staatssicherheit“ (Stasi) war das Hauptinstrument der SED zur Kontrolle und Unterdrückung der Bürger, das viele Menschen bespitzeln und verfolgen ließ. Die gesammelten Informationen kamen in Akten. Nach dem Mauerfall konnten Bürgerrechtler einen Teil davon retten. 1991 errichtete der Bundestag die „Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen“ und machte Joachim Gauck, später Bundespräsident, zum ersten „Bundesbeauftragten“. Die Behörde archiviert und rekonstruiert zirka 111 Kilometer Akten, die öffentlich einsehbar sind. Sie sind konkret dazu da, um „Unrecht zu verarbeiten, den Menschen ihr gestohlenes Leben zurückzugeben“, sagt der aktuelle Behörden-Leiter Roland Jahn.
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