Erst der Umzug seiner Mutter nach Bayern sollte ihn zum „Ossi“ machen. Warum er kein „Ossisch“ spreche, fragen Mitschüler. Die Lehrerin rät ihm, „sich schleunigst einzugliedern“. „Mir wurde jeden Tag ins Gesicht geschleudert, dass ich aus einem Nicht-Normalzustand stamme“, sagt er im KURIER-Gespräch. Seine Reaktion: Abgrenzung. Wenn ihr den Ostdeutschen haben wollt, könnt ihr ihn haben. „Ich habe was verteidigt, ohne eine Ahnung zu haben, wovon ich spreche.“
Denn eigentlich, so Nichelmann, wusste er wenig über den Staat, in dem seine Eltern gelebt haben. Als er und sein Bruder klein waren, entdeckten sie die NVA-Uniform des Vaters. Dieser reagierte wütend. Sie haben nichts damit anzufangen, erklärte er ihnen. Punkt. Bis zu dem Zeitpunkt als er begann, seine Familiengeschichte aufzuarbeiten und die von anderen Altersgenossen niederschrieb, sowie deren Müttern und Vätern, die nichts über ihr Aufwachsen in der DDR erzählt haben ("Nachwendekinder", Ullsteinverlag).
Die Gründe für das Schweigen sind vielschichtig. Nichelmann macht auch die öffentliche Debatte und Darstellung mitverantwortlich, die einem entweder das Bild von „Ostalgie-Kitsch“ oder „Stasi-Knast“ vermittelte, wobei er es richtig findet, „dass die Opfer der Verbrechen der SED-Diktatur eine grosse Rolle spielen“. Nur: „Es gibt keine gesellschaftliche Verabredung dafür, wie umzugehen ist, wenn man das richtige Leben im falschen geführt hat“, sagt er mit Blick auf seine Eltern. Für Menschen wie seinen Vater, die in der SED waren, gab es keinen Raum, sich auszutauschen.“ Vielmehr überwog das Gefühl, man solle nicht über diese Zeit sprechen – „das geht in die Familien hinein“.
Mit Scham und Schweigen über die Herkunft will die junge Generation brechen. Immer mehr Ostdeutsche verschaffen sich Gehör: Podcasts wie „Ode an den Osten“ greifen andere Perspektiven auf; die Leipziger Initiative „Aufbruch Ost“ verlangt eine neue Debatte über den Osten – unabhängig davon, ob die AfD Wahlerfolge erzielt oder es in Chemnitz zu Rechtsextremen-Aufmärschen kommt.
Das stört auch Johannes Nichelmann. „Wenn wir so tun, als geht das nur den Osten an, kommen wir nicht weiter. Das ist ein gesamtdeutsches Problem.“ Nach dem Wahlergebnis der AfD in Sachsen und Brandenburg wo viele Junge die Partei wählten, setzte ein üblicher Reflex ein im Sinne von „Was ist im Osten bloß los?“
Die Stigmatisierung führe auch zu Solidarisierungseffekten. Der Soziologe Daniel Kubiak von der Humboldt-Universität Berlin fand heraus, dass man sich ostdeutsch fühlt, wenn es einem ständig anerzählt wird.
Ein Gefühl, das Parteien wie die AfD aufgreifen. Dazu verteilt sie in Thüringen, wo am 27. Oktober gewählt wird, Comics. Rechtsaußen Björn Höcke erklärt darin, die BRD sei nichts anderes als die DDR-Diktatur. Tenor an die Jungen: Wenn ihr das ändern wollt, macht es wie eure Eltern und startet die Revolution – mit dem Stimmzettel.
Während sich bei manchen die Identität mit dem Nationalistischen verbindet, hat Journalist Nichelmann andere Strategien der Nachwendekinder ausgemacht: Da gibt es einen, der Trabi fährt, um sich in die DDR-Zeit hineinzuversetzen; oder eine, die im Westen lebt und alles Ostdeutsche abgelegt hat, weil sie ihren Kindern die selbst erfahrene Sonderbehandlung ersparen will. Keinen Schlussstrich will Johannes Nichelmann ziehen. In seiner Familie wird heute mehr geredet als zuvor. „Viele Eltern warten, darauf angesprochen zu werden.“
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