Stalins 70. Todestag: Wie der Diktator mein Leben überschattete
von Jana Patsch
"Endlich! Das Schwein ist tot, Stalin ist gestorben", ruft meine Mutter am 6. März 1953 voller Freude in der Stimme aus, nachdem sie den im Kleiderkasten versteckten, fürchterlich krächzenden Radioapparat eingeschaltet hat. Es war ein Kurzwellenempfänger, mit dem man verbotenerweise Radio Free Europe und Voice of America hören konnte – meistens nur Tonfetzen, denn der Empfang der von den Amerikanern finanzierten Radiosender für die kommunistischen Länder wurde gestört, so gut es nur ging. Es tobte der Kalte Krieg, Nachrichten aus dem Westen waren streng zensuriert.
Ich war damals zehn Jahre alt und konnte nicht verstehen, warum meine Eltern regelmäßig ihre Köpfe in den Kasten steckten und mit angehaltenem Atem dem Krachen lauschten, wenn wir doch auch "normales Radio" hatten. Wir wohnten in einer Garage in der Mittelslowakei, wohin wir aus unserem Haus in Bratislava/Pressburg deportiert worden waren. Meine Familie war Opfer des stalinistischen Terrors, der auch in der damaligen Tschechoslowakei tobte. Im Rahmen der sogenannten Akcia B wurden Hunderte Familien, meist Intellektuelle, aus der Hauptstadt in die tiefste Provinz zur Zwangsarbeit umgesiedelt.
Der Diktator, den wir ungeachtet all seiner Verbrechen als „Übervater“ zu ehren hatten, war am 5. März 1953 an den Folgen eines tagelang geheim gehaltenen Schlaganfalls gestorben. Ausgerechnet an dem Tag, als sich diese Nachricht weltweit verbreitete, war ich in der Schule an der Reihe, die tägliche politische Ertüchtigung (Desatminutovka) vorzutragen. Damit ideologisch ja nichts schiefgehen konnte, wählte die Lehrerin routinemäßig am Vortag einen Artikel der Parteizeitung Pravda aus, den man dann herunterleiern musste. Ich tat es wie gewohnt.
Die Lehrerin hatte verweinte Augen und ein geschwollenes Gesicht, schluchzend bedrängte sie mich: "Und was ist noch passiert?" Ich stand vor der Tafel und schwieg. Innerlich konnte ich nur an das oberste Gebot meiner Eltern denken: "Niemals, unter keinen Umständen, darfst du Fremden etwas weitererzählen, was du zu Hause gehört hast."
Mahnwache mit Verkühlung
Die linientreue Pädagogin ließ nicht locker und schrie hysterisch: "Und welchen unersetzlichen Verlust haben wir in der Nacht erlitten?" Ich stand da wie ein Zaunpfahl und blieb stumm. Ich machte den Mund nicht auf und fühlte mich wie ein Idiot – dieses traumatisierende Gefühl kann ich bis heute nicht vergessen.
Wir wurden schließlich zum Umziehen nach Hause geschickt. In weißer Bluse und mit rotem Pionierhalstuch mussten wir am Hauptplatz, der nach Stalin benannt war, bei Minusgraden Mahnwache stehen. Ich war bestimmt nicht die Einzige, die sich dabei eine Verkühlung holte. Dabei hatte mir meine Mutter unter der Bluse zwei Pullover angezogen.
Weitaus schlimmer erging es dem damaligen tschechoslowakischen Staatschef Clement Gottwald. Unmittelbar nach seiner Rückkehr von Stalins Begräbnis nach Prag verstarb er plötzlich. Über die Ursache wurde viel spekuliert, das Wort "Vergiftung" fiel. Die offizielle Version lautete, Gottwald seien die Strapazen zu viel gewesen.
Wie Heiligenbilder
Väterchen Stalin, dessen Fotos wir wie Heiligenbilder mit uns trugen, war allgegenwärtig. Sein Porträt dominierte nicht nur den öffentlichen Raum. Ich erinnere mich, dass es auch auf so mancher Küchenkredenz aufgestellt wurde oder als Kalenderblatt private Wände schmückte. Der Personenkult war in der ganzen kommunistischen Welt gigantisch. 15 große Städte wurden nach dem blutrünstigen Diktator umbenannt – wie Stalingrad, Sztalinvaros, Stalinst, Stalinabad, Stalino. Praktisch jede Ortschaft hatte eine Stalin-Straße und ein Denkmal.
Das europaweit größte Denkmal wurde über Prag errichtet. Die Komposition aus Granit, mit Sockel 30 Meter hoch, zeigte zwei Menschenreihen, angeführt von Stalin. Ihm folgten auf der rechten Seite die Vertreter des Sowjetvolkes: Arbeiter, Wissenschafter, Kolchosbäuerinnen, Rotarmisten.
In der linken Reihe standen ihre tschechischen und slowakischen Pendants. Der Volksmund nannte diese Anordnung hinter vorgehaltener Hand "Fronta na maso" ("Warteschlange für die Fleischausgabe"), eine Anspielung auf die schlechte Versorgungslage. Der Künstler, der bis zuletzt gehofft hatte, die Ausschreibung nicht zu gewinnen, hielt den Spott seiner Mitmenschen nicht aus und beging Selbstmord.
Drei Jahre später kam Nikita Chruschtschow im Kreml an die Macht und leitete die Ära der Entstalinisierung ein. Die einbalsamierte Leiche des Diktators wurde aus dem Mausoleum auf dem Roten Platz in Moskau verbannt. Immerhin bekam er noch einen Ehrenplatz in einem Grab an der Kremlmauer.
Das politische Tauwetter in Moskau sorgte bei den Prager Ideologen für gewaltige Kopfschmerzen. Fieberhaft überlegten sie, wie sie das 17.000 Tonnen schwere Stalin-Denkmal sprengen könnten, ohne das umliegende Stadtviertel zur Gänze in die Luft zu jagen. Irgendjemand kam auf die glorreiche Idee, auf der darunter liegenden Moldau-Brücke eine Kanone aufzustellen und Stalin ein Auge auszuschießen. So könnte man den sowjetischen Revolutionär in Jan Žižka verwandeln, den einäugigen Heerführer der Hussiten in den Religionskriegen Anfang des 15. Jahrhunderts.
Die Aktion wurde in der Nacht durchgeführt. Am Morgen war nicht zu übersehen, dass der Schütze deutlich zu tief gezielt und statt Stalins Auge einen anderen Körperteil weggeschossen hatte. "Keine Sorge, machen wir ein Božena-Němcová-Denkmal aus ihm." Němcová ist die National-Dichterin der Tschechen. Der pietätlose Scherz wird in Prag von Generation zu Generation weitererzählt. Letzten Endes wurde das Stalin-Denkmal doch gesprengt.
Touristenattraktion
Die Georgier wollten sich den Stolz auf ihren großen Sohn nicht so schnell nehmen lassen. Dort war Stalin als Josef Wissarionowitsch Dschugaschwilli 1878 geboren worden. Und trotz Abschaffung des Personalkults standen in der kaukasischen Sowjetrepublik noch im Frühling 1989 seine Statuen und Büsten auch in privaten Gärten herum – wie bei uns die Gartenzwerge.
Stalins Geburtshaus in Gori hätte zu einem kommunismuskritischen Museum umgewandelt werden sollen. Daraus wurde nichts. Es war vorübergehend geschlossen, ist aber heute wieder geöffnet. Für 5,20 Euro Eintritt kann man sogar Stalins Salon-Eisenbahnwaggon besichtigen.
Auch die 15 Meter hohe Statue des Georgiers, der gerade in Georgien Massenmorde inszenierte, wurde als Touristen-Attraktion wieder aufgestellt. Auf die Einnahmen will man nicht verzichten. Auch in Russland erlebt Stalin, der für Millionen Opfer verantwortlich ist, eine Renaissance. 2017 wurde er zum "größten russischen Helden aller Zeiten" gewählt. 70 Jahren nach seinem Tod sehen ihn viele Russen als "herausragende Persönlichkeit".
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