Neue Flüchtlingswelle: Erdoğan wieder unter Verdacht
von Andrea Affaticati
Der Sommer steht vor der Tür und die Migranten sind vor Italiens Küsten. Allein am Sonntag sind auf der kleinen sizilianischen Insel Lampedusa 2.128 Menschen angekommen. Seit Anfang des Jahres waren es insgesamt 12.894, entnimmt man dem Internet-Portal des italienischen Innenministeriums. Es sind die höchsten Zahlen seit vielen Monaten, ausgelöst auch durch das frühsommerliche Wetter im zentralen Mittelmeer.
Doch das sei nur ein Bruchteil von den geschätzt 50- bis 70.000 Menschen, die in Libyen ausharren und nur darauf warteten, von libyschen Schleusern über die gefährliche Mittelmeerroute gebracht zu werden, schreibt die Tageszeitung Corriere della Sera, die sich auf Berichte des italienischen Geheimdienstes beruft.
ht wieder alleine gelassen werden und ruft die EU einmal mehr zur gemeinsamen Verantwortung auf. Premier Draghi will, dass das Migrationsthema höchste Priorität beim EU-Gipfel am 25. Mai hat. Die EU-Kommission hat unterdessen bereits mehrere EU-Mitgliedsländer wegen der Flüchtlinge kontaktiert. Zusagen aber hat bisher weder sie noch Rom erhalten.
Apropos Türkei. Laut der Tageszeitung La Repubblica würden viele Spitzenvertreter der EU die Meinung vertreten, diese plötzliche Migrantenwelle sei eine Retourkutsche des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan gegen Italien.
Draghi hatte Erdoğan vor einigen Wochen einen Diktator genannt und sich nie dafür entschuldigt.
Ganz im Sinne Erdoğans
„Zweifelsohne ist das eine interessante These, die Erdoğan in die Hände spielt“, meint Matteo Villa im Gespräch mit den KURIER. Villa ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für internationale Politik (ISPI) in Mailand und beschäftigt sich mit Mittelmeerraum und Migration.
Immerhin, die EU im Glauben zu lassen, Ankara könne Brüssel nicht nur mit den Migranten in der Türkei sondern auch mit denen in Libyen unter Druck setzen, verleihe ihm einen noch größeren Spielraum.
„So verkennt man aber die wirkliche Lage in Libyen und misst Erdoğan einen Einfluss zu, der sicher groß, aber doch nicht so groß ist“ hebt Villa hervor. Es stimme zwar, dass der Einfluss der Türkei in Libyen enorm gewachsen sei, besonders seit General Chalifa Haftar mit militärischer Unterstützung der Türkei aus Tripolis verjagt wurde: „Doch ich denke, dass es die Milizen und die Schleuser sind, die mit der Flüchtlingswelle die neuen Machthaber im Land, darunter auch Ankara, unter Druck setzen wollen.“
Die nationale Einheitsregierung sei gerade einmal zwei Monate alt und noch sehr wackelig auf den Beinen. Ministerpräsident Abdulhamid Dbeibeh, der aus Misrata, einem wichtigen Wirtschaftszentrum östlich von Tripolis stammt, ist für die Libyer an der Westküste, von wo aus die Boote mit Migranten ablegen, unbedeutend.
Das nutzen die dortigen Milizen und Schleuser um klar zum machen, dass auch sie ein Wort beim Aufbau des Landes mitzureden haben. Dass es zu einem Abkommen wie mit der Türkei kommen könnte, schließt Villa nicht aus, gibt aber zu bedenken „dass sich das Land erst stabilisieren muss, und das wird viel Zeit beanspruchen“.
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