400 Betroffene
Für das Amnestiegesetz, von dem schätzungsweise etwa 400 Unabhängigkeitsbefürworter profitieren könnten, ist es bereits der zweite Anlauf: Der erste Entwurf war im Januar gescheitert, ausgerechnet am Votum der katalanischen Junts-Partei. Sie fürchtete, Parteichef Carles Puigdemont könnte von der Straffreiheit nicht profitieren.
Die geplante Amnestie richtet sich zuvorderst an Schuldirektoren, die Räumlichkeiten für die illegale Abstimmung zur Verfügung stellten, Politiker, die dafür Gelder veruntreut haben, oder Bürger, die sich an Straßensperren und anderen Protesten beteiligten. Schwere Delikte wie Terrorismus blieben ausgenommen. Doch gegen Puigdemont, der seit der gescheiterten Unabhängigkeitserklärung im Oktober 2017 in Belgien lebt, wird wegen Terrorismus ermittelt.
Schlupfloch?
Der Straftatbestand Terrorismus ist im spanischen Strafgesetz vergleichsweise weit gefasst: Unter ihn können alle schweren Delikte fallen, die die öffentliche Ordnung unterminieren. Auch die Aktionen der Protestplattform „Tsunami Democràtic“, die der ehemalige katalanische Präsident aus dem Exil mitorganisiert haben soll: Im Herbst 2019 blockierten Zehntausende den Flughafen von Barcelona, als Protest gegen die damals bekannt gewordenen hohen Haftstrafen für Puigdemonts in Spanien verbliebene Mitstreiter. Die Junts-Partei forderte die Nachschärfung der Amnestie. Im neuen Entwurf sind Terrorismus-Delikte zwar ebenfalls von der Amnestie ausgenommen, allerdings beruft sich der Text jetzt explizit auf das europäische Rechtsverständnis, nicht das spanische Strafrecht. Ein Schlupfloch für Puigdemont? Das hofft zumindest seine Partei. Die hat ihn bereits für die am Mittwoch verkündeten Regional-Neuwahlen als möglichen Kandidaten ins Spiel gebracht.
Dabei spielte der gelernte Journalist mit der Beatles-Frisur, der 2015 eher zufällig an die Spitze der Unabhängigkeitsbewegung gespült wurde und dann im Oktober 2017 die katalanische Republik ausrief, zuletzt kaum noch eine politische Rolle. Die katalanischen Parteien sind unter sich zerstritten. Und aus dem Straßenbild sind die gelben Schleifen und andere Protestinsignien weitgehend verschwunden.
Deeskalationsstrategie
Das ist auch ein Ergebnis der Deeskalationsstrategie der in Madrid regierenden Sozialisten. Bereits im Juni 2021 hatte Pedro Sánchez Puigdemonts ehemaligen Vize und zwölf weitere separatistische Anführer begnadigt. Mit der Freilassung der „politischen Häftlinge“ verlor die Bewegung ihren wichtigsten Mobilisierungsgrund. An diesen Erfolg wollen die Sozialisten mit dem Amnestiegesetz anknüpfen.
Doch während es in Katalonien ruhig geworden ist, brodelt es im Rest des Lands. Als die Vereinbarung mit den separatistischen Parteien im Herbst bekannt wurde, protestierten vor der Madrider Parteizentrale der Sozialisten wochenlang meist jüngere, erboste Spanier. „Sánchez Volksverräter“ gehörte noch zu den harmloseren Beleidigungen, mit denen der Premier bedacht wurde. Auf Aufruf der konservativen Volkspartei demonstrierten Zehntausende im ganzen Land. Die bevorstehende Abstimmung trieb vergangene Woche in Madrid erneut 15.000 Menschen auf die Straße.
Unversöhnliche Lager
Die Proteste zeigen, wie unversöhnlich sich in Spanien zwei Auffassungen von Nation gegenüberstehen. Während ein Teil der Gesellschaft die Idee eines „plurinationalen Spaniens“ adoptiert hat, in dem den auf Autonomie bedachten Regionen so viel Platz wie möglich zur Selbstentfaltung eingeräumt wird, hält ein anderer an der Idee einer übergeordneten Nation fest, die von einer Sprache, einem König und einer jahrhundertelangen Geschichte zusammengehalten wird.
Aus dieser Gemengelage haben die konservative Volkspartei Partido Popular (PP) und die rechtspopulistische Vox bisher erfolgreich Kapital geschlagen, zumindest was die gesellschaftliche Stimmung betrifft. In Umfragen lehnen knapp sechzig Prozent der Spanierinnen und Spanier die Amnestie ab. Damit das Gesetz in Kraft tritt, muss es nach der Abstimmung im Parlament noch durch den Senat. Im spanischen Oberhaus haben die Konservativen die absolute Mehrheit. Die PP hat bereits angekündigt, das Procedere so lang wie möglich verzögern zu wollen und eine Verfassungsklage angekündigt.
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