Soldaten ergeben sich: Was bedeutet der Fall des Stahlwerks von Mariupol?
Kaum eine Stadt ist derart zu einem Symbol für den russischen Angriff auf die Ukraine geworden wie Mariupol. Bereits kurz nach Kriegsbeginn wurde die Hafenmetropole eingekesselt; im März sorgten Bilder einer bombardierten Geburtsklinik und eines zerstörten Theaters für Bestürzung, in dem sich Hunderte Zivilisten aufgehalten hatten.
Mariupol: Hunderte Soldaten geben auf
Zuletzt drehte sich die Berichterstattung um das Stahlwerk Asowstal als letzten Teil Mariupols, der sich noch unter ukrainischer Kontrolle befand. Trotz Belagerung und täglichem Beschuss harrten rund 600 ukrainische Soldaten wochenlang in dem weitläufigen, untertunnelten Areal aus. Nach schwierigen Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau ergaben sich am Montag mehr als 260 Armeeangehörige und wurden abtransportiert. 53 von ihnen waren schwer verletzt, etwa mit amputierten Gliedmaßen. Russland bestätigte die Evakuierung am Dienstag. Es sprach von 265 Kämpfern, die sich ergeben hätten, darunter 51 Schwerverletzte.
Die Soldaten wurden nach Angaben des ukrainischen Generalstabs in russisch besetztes Gebiet gebracht und sollen später im Rahmen eines Gefangenenaustauschs freikommen.
Was weiß man über die Evakuierung und die nächsten Schritte?
Nach Angaben der ukrainischen Regierung beteiligten sich das Internationale Rot Kreuz und die UNO an der Rettungsaktion. Die übrigen Soldaten im Stahlwerk, deren genaue Zahl nicht bekannt ist, sollen dieses ebenfalls bald verlassen. Hunderte Zivilisten, die auf dem Gelände Zuflucht gesucht hatten, wurden bereits Anfang Mai evakuiert.
Wie es mit den Soldaten aus Asowstal weitergeht, ist unklar; über die zwischen Kiew und Moskau getroffenen Vereinbarungen wurde nichts verlautbart.
Fest steht aber, dass die Ukraine alles daran setzen wird, die Kämpfer wohlbehalten zurück zu bekommen. Die Ukraine brauche ihre Helden lebend, sagte Präsident Wolodimir Selenskij in einer Videoansprache.
Sollen alle Kämpfer aus dem Stahlwerk gegen russische Gefangene ausgetauscht werden?
Kämpfer aus dem Stahlwerk würden nach internationalen Standards behandelt, teilte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Dienstag mit. Präsident Wladimir Putin habe dies zugesichert.
Das russische Parlament erwägt allerdings, Kämpfer des ukrainischen Asow-Regiments - das wegen seiner rechtsradikalen Vergangenheit als großes Feindbild gilt - von einem Gefangenenaustausch auszunehmen.
„Das sind Kriegsverbrecher, und wir müssen alles dafür tun, sie vor Gericht zu bringen“, sagte Duma-Chef Wjatscheslaw Wolodin.
Auch der Osteuropa-Experte Sergej Sumlenny äußerte Zweifel, dass Russland Angehörige des Asow-Regiments ziehen lassen werde. Er schrieb auf Twitter, bis zu 100 verwundete Soldaten aus Asowstal seien in sogenannte "Aussiebe-Camps" gebracht worden.
In derartigen Lagern in russisch kontrollieren Gebieten werden Menschen Berichten zufolge oft tagelang festgehalten und verhört.
Ist das Asow-Regiment wirklich rechtsradikal?
Zum Zeitpunkt seiner Gründung als Freiwilligen-Bataillon 2014 hatte das Asow-Regiment Experten zufolge tatsächlich einen rechtsextremen Hintergrund. Seine Kämpfer sorgten mit Neonazi-Symbolen für Aufsehen. Inzwischen habe sich das Regiment mit seinen aktuell 2.000 bis 3.000 Kämpfern aber „entideologisiert“. Es wurde wie andere paramilitärische Verbände in die ukrainische Nationalgarde integriert und steht unter dem Kommando des ukrainischen Innenministeriums.
Das Asow-Regiment gilt allerdings als „besonders hart“ und zieht laut Experten deshalb viele Kämpfer an – mit verschiedenen politischen Hintergründen.
Dass der Kreml weiter an seiner Darstellung des Asow-Regiments als Nazi-Organisation festhält, liegt daran, dass der als „Spezialoperation“ bezeichnete russische Angriff auf die Ukraine offiziell der „Entnazifizierung“ des Nachbarlandes dient - ein nach internationaler Einschätzung substanzloser Vorwurf.
An der Staatsspitze der Ukraine steht der demokratisch gewählte Jude Selenskij und auch in der übrigen politischen Landschaft der Ukraine spielt die äußerste Rechte heute nur noch eine marginale Rolle.
Warum ist Mariupol überhaupt für beide Seiten so wichtig?
Das Handelszentrum am Schwarzen Meer ist strategisch, vor allem aber symbolisch von Bedeutung. Es liegt auf der von Russland angestrebten Landverbindung zwischen der 2014 annektierten Krim und dem von Separatisten kontrollierten Donbass. Bereits 2014 hatte Russland versucht, Mariupol zu erobern, scheiterte aber.
Für die Ukraine ist insbesondere das Stahlwerk zu einem Symbol des Widerstands geworden, seine Verteidiger gelten als Helden. „Dank ihnen haben wir kritisch wichtige Zeit für die Formierung von Reserven, eine Kräfteumgruppierung und den Erhalt von Hilfe von unseren Partnern erhalten“, betonte denn auch Vize-Verteidigungsministerin Hanna Maljar nach der Evakuierung der Soldaten.
Diese hätten ihre „Kampfaufgaben erfüllt“ und nachdem ein Freikämpfen nicht möglich war, sei es nun das Wichtigste, ihr Leben zu schützen.
Was bedeutet der Fall des Stahlwerks für den Kriegsverlauf?
Der Rest Mariupols steht ohnehin seit Wochen unter russischer Kontrolle. Dass nun auch das Stahlwerk besetzt werden kann, ist – wie bereits gesagt – symbolisch wichtig. Zudem wurde es wochenlang von Soldaten des vom Kreml verhassten Asow-Bataillons gehalten.
In russischen Medien wurde über die Belagerung des Stahlwerks übrigens kaum berichtet, wie allgemein über das Kriegsgeschehen außerhalb des Donbass.
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