"Schritt für Schritt normalisiert sich das Leben bei uns wieder,“ sagt Shixin, ein 43-jähriger Exportmanager, der mit seiner Frau und dem elfjährigen Sohn im Zentrum von Shanghai wohnt. Vergangenen Donnerstag wurde erstmals seit Ausbruch der Epidemie keine einzige Neuinfektion in der Volksrepublik verzeichnet, der Großteil der mehr als 80.000 Infizierten gilt zudem inzwischen als geheilt.
Sechs Wochen lang waren in der drittgrößten Stadt der Welt weder Verkehrslärm noch Stimmengewirr zu vernehmen. Die mehrspurigen Autostraßen im Zentrum Shanghais waren selbst zur Rush-Hour so gut wie ausgestorben. Die 24-Millionen-Stadt war im Ausnahmezustand. Von Alltag kann aber nach wie vor keine Rede sein.
Die Schulen bleiben wahrscheinlich noch zwei Wochen geschlossen, die Universitäten sind noch mindestens einen Monat zu, doch immer mehr Büros und Restaurants sperren auf. Gesichtsmasken werden allerdings weiterhin zum Alltagsbild gehören.
Shixin, Absolvent einer Eliteuniversität, gehört in Shanghai zur oberen Mittelschicht. Nach klassischem Muster bedeutet das, dass seine Frau nicht arbeitet und das Thema Kinderbetreuung damit wegfällt. Sie kauft ein, während der Ehemann rund um die Uhr, oft auch am Wochenende, in seinem Büro arbeitet.
Doch während Shanghai sich langsam aus dem Stillstand der Corona-Quarantäne löst, erwacht auch eine neue feministische Bewegung, die Kritik an der in weiten Teilen der Volksrepublik noch immer vorherrschenden Geschlechterordnung übt.
Auch für die 21-jährige Studentin Mia Cheung (Name geändert), eine von 31.900 Studenten der Fudan-Universität, war die Welt eine andere: „Ich habe diese Stadt noch nie so erlebt.“ Der Ausbruch der Corona-Epidemie hat den privaten und beruflichen Alltag wie kaum ein Ereignis zuvor verändert.
Die allgegenwärtige Propaganda der kommunistischen Partei ist in Zeiten der Corona-Krise mehr denn je von Sexismus und Geschlechterklischees geprägt. Vielen, auch Mia Cheung, wird das nun bewusst: „Sexismus ist in China leider ein großes Thema. Als ich meinem Vater sagte, dass ich einen Master machen möchte, hat er gesagt: Das ist nicht notwendig für ein Mädchen.“
Kritik und Zensur
Mit dem Leben auf der Straße erwacht auch die Kritik an der Regierung - und damit am Sexismus der kommunistischen Partei. ChinasRegierung brüstet sich damit, die Oberhand im Kampf gegen das Coronavirus erlangt zu haben.
Doch die restriktiven Maßnahmen haben ihr nicht nur wirtschaftlichen Schaden eingebracht. Durch den Versuch, das Virus in der Frühphase der Epidemie unter den Teppich zu kehren, hat die Regierung viel an Kredit bei der eigenen Bevölkerung eingebüßt. Dabei ist die Skepsis gegenüber offiziellen Informationen ohnehin groß, die meisten haben alternative Nachrichtenkanäle.
Wie das in der Volksrepublik funktioniert? Millionen Internetnutzer bedienen sich sogenannter VPN-Tunnel, um Handysignale zu verschleiern und so die Sperren der Zensur zu umgehen. Denn nicht nur chinakritische Webseiten sind hier gesperrt, sondern auch westliche soziale Netzwerke.
Chinesen verbringen aktuell so viel Zeit in den sozialen Medien wie nie zuvor, selbst normalerweise unpolitische Bürger wurden dort in der wochenlangen Quarantäne zunehmend sensibilisiert: Durch Videos von Beamten, die Quarantänemaßnahmen auf brutale Weise umsetzen. Aber auch durch kritische Beiträge, die vor den Augen von Millionen von Nutzern gelöscht werden, denn die Zensoren der Regierung sind durch die Flut an Kritik im Netz langsamer geworden.
Besonders deutlich wurde das am 6. März, als Sun Chunlan, eine der ranghöchsten Politikerinnen des Landes, bei ihrem Besuch in Wuhan von erbosten Bürgern aus deren Wohnhaus heraus angeschrien wurde. Sie klagten über die Lügen der Regierung und die mangelhafte Versorgung während der Quarantäne. Das Video ging viral, mehrere Millionen Chinesen hatten es innerhalb kürzester Zeit gesehen, weshalb letztlich sogar TV-Sender gezwungen waren, es auszustrahlen.
Besonders viel Zorn zieht die sexistische Propaganda der Partei nach sich. Die warb etwa mit Bildern von kahl geschorenen Krankenschwestern, die sich angeblich freiwillig rasiert hatten, um die Ansteckungsgefahr durch das Coronavirus zu vermindern. Wenig später tauchte ein Video im Netz auf, auf dem dieselben Frauen weinten, als sie von Männern geschoren wurden. Ein tosender Shitstorm war die Folge.
Es wird also deutlich spürbar, dass in China weiterhin besondere Umstände herrschen. Normalerweise werden kritische Stimmen im Reich der Mitte effizient zum Verstummen gebracht. Die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua sprach Anfang Februar beispielsweise noch von “unmoralischem und verabscheuungswürdigem Verhalten" Einzelner.
Inzwischen klingt das ganz anders, so gab Staatspräsident Xi Jinping vergangene Woche ganz offiziell zu verstehen: “Die Massen in Wuhan, Hubei und anderen Regionen waren lange in Quarantäne. Sie haben aufgestaute Emotionen, die raus müssen. Wir müssen verständnisvoll und vergebend sein.” Es ist die Rede gewordene Eiserne Faust, die ihren Griff lockert.
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